Dienstag,
12.11.2019 - 02:00
4 min
Mainz 05 hat den „Mainzer Weg“ längst verlassen

Von Peter Schneider
Sportredaktion Mainz

Zwei 05-Identifikationsfiguren, zwei 05-Trainer: Jürgen Klopp umarmt Sandro Schwarz. Ein Foto, aufgenommen im Juni 2004. (Foto: imago)
MAINZ - Sandro Schwarz muss gehen. Das Aus für den Trainer beim 1. FSV Mainz 05. Erstaunlich oft ist in diesen Trennungstagen die Rede vom Verlassen des Mainzer Weges. Diesen Weg hat der Verein aber längst verlassen. Keine Kritik, sondern eine Feststellung. Früher war vieles anders. Ob alles besser war, ist die Frage, die jeder für sich beantworten muss.
Die Spiele am Bruchweg sind unvergessen. Das Underdog-Flair wehte über die Tribünen. Wohl dem, der für diese Spiele nach dem Aufstieg 2004 ein Ticket hatte, vielleicht sogar eine Dauerkarte, die niemand freiwillig abgegeben hätte.
Nostalgie-Gefühle, die heute noch aufflackern bei Besuchen der Heimspiele der U 23 oder der U 19 mit Blick auf die Blöcke P, Q, R und S. Man stelle sich vor: Damals, nach einem umkämpften Spiel, hätte eine kleine Fan-Gruppe hinter dieser Tribüne in die Glaskugel geschaut. Ins Jahr 2019. Dort wäre erschienen: Nach zwei Niederlagen in Folge trennen sich die 05er vom Trainer, dem gebürtigen Mainzer Sandro Schwarz. Und: Stimmungsboykott gegen Union Berlin im Block. Auf jener Fan-Tribüne, auf der es während der Saison mindestens einmal – beim Spiel gegen Köln – handfeste Auseinandersetzungen gegeben hat, wohlgemerkt: 05-Fans gegen 05-Fans. Nach dem 2:3 gegen Union werden die Spieler zum Rapport gezwungen. Kopfschütteln bei der Fan-Gruppe aus der Vergangenheit: Blöde Glaskugel, so etwas gibt es bei 05 nicht, wird es auch 2019 nicht geben. Auch wird „bei uns“ nie eine Pyro-Fackel auf den Rasen fliegen. So kann man sich irren. Siehe Pokalspiel.
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Willkommen in der Realität der Bundesliga, in der schon viele Vereine vieles verkauft haben – nicht nur gegen Bares an Investoren. Mainz 05 gehört weiter zu den Ausnahmen, die als e.V. die Mitgliederversammlung als höchstes Organ haben. Das ist ein großes Plus. Trotzdem steht natürlich das wirtschaftliche Plus im Vordergrund. Und deshalb war der Umzug in die Arena auf den Bretzenheimer Feldern am 3. Juli 2011 unumgänglich. Ja, diese Arena ist etwas, auf das der Verein stolz sein kann, wurde der Bau doch in Eigenregie gestemmt. Aber auch hier wurden schon Fehler gemacht. Einer der größten: Erst nach jahrelanger Kritik wurde ein Fan-Zelt installiert. Eines, das es – in kleinerer Variante – am Bruchweg bereits gegeben hatte. Warum nicht früher nachgebaut?
Nun ist ein Fan-Zelt sicher kein überlebenswichtiges Teil. Aber ein Mosaiksteinchen. Das nicht zu unterschätzen ist. Irgendwo hat der Verein auch das verloren, was ihn beim Einzug in die Bundesliga ausgezeichnet hat: die Selbstironie. „Wir sind nur ein Karnevalsverein“ – in diesem Satz steckt so viel 05 drin, dieser Satz wurde so lange mit Leben gefüllt. So wie dem FC Bayern ein „Wenn wir wollen, kaufen wir euch auf“ entgegengeschmettert wurde. Damals, als in der Allianz Arena der 05-Block noch ausverkauft war.
Ein Beispiel: der Einschnitt im Spiel bei der TSG Hoffenheim
Das alles gehört der Vergangenheit an. Denn aus Spaß wurde Ernst. Beispiel? Am 10. Februar 2018 flüchteten sich die 05-Fans bei der 2:4-Niederlage in Hoffenheim in eben diese Ironie. Mit „Oh, wie ist das schön“- und „Europapokal“-Gesängen. Die Spieler und Trainer Schwarz fanden das nicht lustig, verweigerten nach Schlusspfiff den Gang zu den Anhängern. Damals hat der Verein die Kurve bekommen. Und die Spieler die Kurve zurückbekommen. Aber jene Fastnachtstage waren ein weiterer Einschnitt. Einschnitte, die manchmal mit einem Paukenschlag kamen, manchmal schleichend.
Die Selbstironie hat längst die 05-Marketingabteilung übernommen. Beispiel: Die Kampagne „Unser Traum lebt“. Dass einen Tag nach der Schwarz-Trennung das neue Fastnachtstrikot das Top-Thema auf der Homepage ist, zeigt fehlendes Fingerspitzengefühl. The Show must go on. Wieder so ein Mosaiksteinchen. Gravierenderes und langfristiges Problem ist der Zuschauerschwund. Wo einst die Tickets nach Übernachtung vor dem Kassenhäuschen ergattert wurden, sind heute einige Top-Spiele nicht ausverkauft. Wo früher im Abstiegskampf die Hütte „brannte“, kommen heute knapp 25.000 Treue – nicht viel weniger hat der 1. FC Kaiserslautern in der Drittliga-Tristesse.
Sportliche Krisen hat 05 einige durchlebt. Jürgen Klopp stieg mit dem Verein ab, ohne ernsthaft in Frage gestellt zu werden. Schwarz muss dagegen frühzeitig gehen. Der erste Entlassene ist er aber nicht. Schon von Kasper Hjulmand trennten sich die Mainzer. Dinge ändern sich, Vereine ändern sich. Unter den Zuschauern in der Arena sind inzwischen viele, die die verpassten Aufstiege nur vom Hörensagen kennen. Und nichts anderes als Bundesliga-Fußball. Da ändern sich Erwartungen.
Was niemals aus den Augen verloren werden darf: Bei allen, die kommen und gehen – Mainz 05 benötigt ein Fundament, Identifikationsfiguren, das Lernen aus Fehlern und, vor allem, Zusammenhalt. Vieles davon war früher besser – würden die Glaskugel-Seher wohl sagen. Heißt aber nicht, dass ein Comeback ausgeschlossen ist. Es muss ja nicht gleich wieder als „Mainzer Weg“ bezeichnet werden.