Zeitreise Masuren: Seen, Wälder und Bilderbuchalleen
Die polnische Region besticht mit üppiger Natur. Die Landschaft durchbrechenden Straßen sind von sattgrünen Baumkorridoren gesäumt. Doch die Idylle ist bedroht.
Von Carsten Heinke
Aus der bisweilen schlechten Straßenqualität erwächst ein Vorteil: Sie zwingt den Reisenden langsam zu fahren. So lässt sich die Schönheit der Alleen besser genießen.
(Foto: Carsten Heinke)
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Ein See, ein Wald, ein See. Dann wieder sanfte Hügel, bedeckt von grün-goldgelben Flickenteppichen. Hier hat sich ein Ziegeldach darin versteckt, dort ragt ein Kirchturm vor – kantig wie Uromas Standuhrkasten und mit ebensolchen Schnörkeln obendrauf. Lerchen trällern. Der Geruch von reifem Korn durchströmt die heiße Sommerluft.
Tragende Rollen dieses stillen Schauspiels spielen charakterstarke Linden, Eschen, Eichen oder Birken. An beiden Straßenrändern stehen sie, die dicht belaubten Kronen zu einem imposanten Dach vereint. Passiert man den von ihnen im Spalier gesäumten Weg, erwächst der Eindruck, man betrachte diese wunderbare Szenerie in Zeitlupe auf musealem Zelluloid. So zeigt sich das Panorama Stück für Stück, jedes eingefasst von Bäumen wie die schwarz umrahmten Einzelbilder eines analogen, langsam abgespulten Films.
Aus der oft schlechten, ja bisweilen einem normalen Fahrzeug kaum zumutbaren Straßenqualität erwächst ein Vorteil: Sie zwingt dem Reisenden das Tempo dieses Landstrichs auf. Um bei all den Löchern keine Pannen zu riskieren, muss man streckenweise sein Gefährt in Schrittgeschwindigkeit bewegen. So lässt sich die Schönheit der Kulturlandschaft in ihrer ganzen Pracht genießen.
Aus der bisweilen schlechten Straßenqualität erwächst ein Vorteil: Sie zwingt den Reisenden langsam zu fahren. So lässt sich die Schönheit der Alleen besser genießen. Foto: Carsten Heinke
Die Kirche in Lokau stammt aus dem 14. Jahrhundert. Foto: Carsten Heinke
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Kampf um die Erhaltung der masurischen Kulturlandschaften
Doch wie lange noch? Immer mehr Alleen verschwinden, um neuen, breiten Straßen Platz zu schaffen. Während sie anderswo längst Geschichte sind, konnten sich die grünen Tunnel im verträumten Ermland-Masuren bis in diese Tage retten. Nun will ihnen der „Fortschritt“ an den Kragen. Doch es gibt Widerstand – zum Glück auch mit Erfolg.
„Ich kenne keine Landschaft Europas, die so von Alleen geprägt ist wie Ostpreußen“, schrieb der Schriftsteller Arno Surminski, der 1934 im Dorf Jäglack (Jeglawki) bei Rastenburg geboren wurde. Jener, der ihn zitiert, ist Krzysztof A. Worobiec. Der Geograf mit schulterlangen weißen Haaren in den besten Jahren hat den Verein Sadyba gegründet, um für die Erhaltung der masurischen Kulturlandschaften zu kämpfen. Die für die Region so typischen baumgesäumten Straßen stehen dabei an vorderster Stelle. „Alleen gehören in die Region Masuren wie die Seen und Wälder. Sie dürfen nicht auf dem Altar der Modernisierung geopfert werden“, sagt Krzysztof. Viele der alten Baumreihen wurden gepflanzt, um den Park eines herrschaftlichen Anwesens mit der Umgebung zu verbinden, Besuchern das Geleit zu geben. Noch heute erinnern die bejahrten, in Reih und Glied platzierten Bäume an Ehrenformationen von livrierten Dienern.
SERVICE-INFORMATIONEN
Einige der schönsten Alleen in Ermland-Masuren befinden sich an der Pilgerroute von Heiligelinde nach Rößel, an der Straße von Woritten nach Dietrichswalde sowie von Leißen nach Dietrichswalde, im Schlosspark Loßainen, am Taberbrücker See, an der Straße von Rastenburg nach Steinort, im Park von Steinort sowie am Steinorter See.
Übernachtung: Die Wassermühle in Groß Purden mit gemütlichen Gästezimmern und einem wilden Garten an einem rauschenden Bach im Wald, www.mlynpatryki.pl.
Aus drei Höfen besteht das Dorf Kadzidlowen in der Johannisburger Heide. Einer davon ist die masurische Kultursiedlung von Danuta und Krzysztof Worobiec – ein Bauernhausmuseum, in dem Gäste übernachten können, www.oberzapodpsem.com.pl.
Wetterschutz für Reisende und Orientierung im Gelände
Neben ideellen wie ästhetischen Werten besaßen die Alleen früher vor allem nützliche Funktionen. Einige davon erfüllen sie noch immer. „Die bepflanzten Wege sollten Raum organisieren, Reisenden Wetterschutz und Orientierung im Gelände geben. „Und sie waren und sind Lebensraum und Wanderkorridore für Menschen wie für Tiere. Denn als Verbindungen zwischen Wäldern und anderen Naturräumen ermöglichen sie großen und kleinen Lebewesen die geschützte Fortbewegung von hier nach da“, erklärt Krzysztof A. Worobiec. Nicht zuletzt seien es tolle Fahrradreviere, so der Aktivist.
Doch leider sähen viele in den Alleen nur alte, enge Straßen, die den Fortschritt behinderten und Gefahren darstellten. Schuld an voreiligen, unumkehrbaren Entscheidungen seien nach Krzysztofs Meinung allerdings nicht allein die regionalen Behörden, sondern auch die EU. „Indem sie die Vergabe von Fördermitteln an die Einhaltung technischer Parameter wie etwa Fahrbahnbreiten bindet, fordert sie quasi die Abholzung der schützenswerten Bäume“, erklärt er.
Um die Vernichtungswelle aufzuhalten, rief der gemeinnützige Verein Sadyba 2004 die Aktion „Retten wir die Alleen!“ ins Leben. Polen aller Generationen schlossen sich dem Protest an und überzeugten damit die Behörden. Krzysztof A. Worobiec weiß, dass es noch viel zu tun gibt. Immerhin, sagt er, tendiere die öffentliche Meinung inzwischen zugunsten der Alleen.