Gruselflair und Glücksgefühle: Eine Reise durch Polens Nordosten
Von Ekkehart Eichler
Masuren lässt sich am besten mit dem Boot erkunden. Die Krutynia gilt manchen als schönstes Paddelrevier des ganzen Landes. Foto: Ekkehart Eichler
( Foto: Ekkehart Eichler)
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Strahlend blauer Himmel über Mauern, Türmen und Bastionen aus rotleuchtendem Backstein. Davor ein Riese auf hohem Podest. Seine physische Größe allein lässt ahnen, dass hier einem Giganten gehuldigt wird. Und in der Tat: Die Statue stellt Nikolaus Kopernikus dar – den wohl größten Gelehrten seiner Zeit und Vater der modernen Astronomie.
Die Erde sei keinesfalls Mittelpunkt des Universums wie im kirchlichen Dogma für alle Ewigkeit zementiert, sondern drehe sich um die Sonne. Mit dieser ungeheuren Behauptung revolutionierte Kopernikus den Blick der Menschen auf die Planeten und ging in die Geschichte ein. Der Vatikan setzte seine Werke auf den Index, verteufelte ihn aber nie als Ketzer – anders als seine Nachfolger Galileo Galilei und Giordano Bruno.
Seine Himmels- und Sternenstudien betrieb das Genie Kopernikus in Frombork (Frauenburg) am Frischen Haff, wo er von 1510 bis zu seinem Tod 1543 fast ununterbrochen lebte. Im Dombezirk der Kleinstadt lassen sie sich vortrefflich nachvollziehen. Planetarium und Museum führen in die komplizierte Materie ein. Im Turm schwingt eine fast zentnerschwere Kugel an einem 28 Meter langen Stahlseil träge hin und her. Das Pendel wurde nach dem französischen Physiker Foucault benannt, der damit mehr als drei Jahrhunderte nach Kopernikus dessen Beobachtung bewies, dass die Erde sich außerdem auch um sich selbst dreht. Die Wendeltreppe im Turm führt zudem zu einer famosen Aussicht auf Stadt, Dombezirk und Haff bis hin zur russischen Exklave Kaliningrad.
Masuren lässt sich am besten mit dem Boot erkunden. Die Krutynia gilt manchen als schönstes Paddelrevier des ganzen Landes. Foto: Ekkehart Eichler Foto: Ekkehart Eichler
Masuren lässt sich am besten mit dem Boot erkunden. Die Krutynia gilt manchen als schönstes Paddelrevier des ganzen Landes. Foto:
Die Statue von Nikolaus Kopernikus in Frombork. Foto: Ekkehart Eichler Foto: Ekkehart Eichler
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Finale Station des Rundgangs ist der Dom mit Kopernikus’ Grabmal aus schwarzem Marmor. Bis 2004 war sein Grab unbekannt, dann fanden Archäologen unter einem Seitenaltar die Gebeine eines hochgewachsenen 70-Jährigen. Der DNA-Vergleich vom Schädel mit ein paar Haaren aus einem schwedischen Buch aus Kopernikus’ Besitz erwies sich als Volltreffer. Und als schließlich das Gesicht zum Schädel rekonstruiert wurde, war die Ähnlichkeit mit zeitgenössischen Porträts frappierend, die Freude nicht nur in Frombork entsprechend groß.
Eine Autostunde südlich von Frombork fasziniert ein technisches Wunderwerk. Denn auf dem Oberländischen Kanal fahren Schiffe und Boote nicht nur im Wasser, sondern auch über Land. Bergauf und bergab, insgesamt fünf Mal auf einem Teilstück von knapp zehn Kilometern – ähnlich wie einst bei Klaus Kinskis Fitzcarraldo, nur dass für den hiesigen Transport niemand zu Tode geschunden wird.
INFORMATIONEN
Anreise: Flüge nach Warschau oder Danzig gibt es von vielen deutschen Flughäfen. Von dort weiter mit dem Mietwagen.
Übernachtung: Hotel Mazuski Dworek, in Masuren, Doppelzimmer mit Frühstück ab 90 Euro, www.mazurskidworek.pl; Hotel Elblag, Ermland DZ mit Frühstück ab 90 Euro; www.hotelelblag.eu.
Pauschal: Die 8-Tage-Erlebnisreise „Danzig und Masuren zum Kennenlernen“ gibt es bei Gebeco, ab 995 Euro, www.gebeco.de.
Im Gegenteil: Ganz und gar umweltfreundlich und geräuschlos landen die Schiffe huckepack auf offenen Leiterwagen und überwinden so die schiefen und geneigten Ebenen bis zum nächsten Kanalstück – immerhin insgesamt fast 100 Meter Höhenunterschied. Die Loren hängen an einem per Wasserrad angetriebenen Seil und fahren auf Schienen gegenläufig die Ebene hinauf oder herunter. Errichtet wurde die Anlage vor mehr als 150 Jahren, um Ostpreußen mit der Ostsee zu verbinden. Heute ist sie dem Tourismus vorbehalten und außerordentlich populär.
Noch wesentlich mehr Trubel allerdings herrscht im Wallfahrtsort Swieta Lipka (Heiligelinde). Dort gilt das Interesse der doppeltürmigen Kirche, die mit ihrer südländisch anmutenden Barockfassade im backsteinigen Ostpreußen wie ein Fremdkörper wirkt. Im Gotteshaus sind vor allem die Orgelvorführungen grandios.
Denn zum Finale tanzen hier alle Puppen zu einer schwermütigen Polonaise. Die Engel blasen Posaune, spielen Mandoline, läuten Glocken. Die Sterne drehen sich im Kreis. Der Erzengel Gabriel verneigt sich vor der Jungfrau Maria, die huldvoll mit dem Kopf nickt. Für jeweils zwei Minuten wird der komplizierte und fragile Mechanismus in Gang gesetzt – ein fast 300 Jahre altes Wunder aus Musik und Mechanik.
Wenige Kilometer weiter ist kein Platz mehr für verspielten Zauber, die heitere Stimmung wie weggeblasen. Die Wolfsschanze bei Ketrzyn (Rastenburg) ist ein düsterer Ort tief im Wald, dessen gruseliges Flair der Faszination des Bösen entspringt – auch hierher kommen jedes Jahr ein paar hunderttausend Besucher.
Umgeben von Wald, Seen und jeder Menge Minen bezogen Hitler und sein militärischer Führungsstab hier vor mehr als 75 Jahren Quartier in Bunkern mit Wänden und Decken aus meterdickem Beton. 800 Tage lang wohnte und regierte der Diktator in dieser Schaltstelle des Terrors. Von hier leitete er den Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion. Hier befahl er, Frauen und Kinder im aufständischen Warschau zu erschießen und die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Und hier scheiterte auch das Attentat Stauffenbergs, das Deutschland von der Nazibarbarei befreien sollte – daran erinnert eine Gedenktafel vor den Resten der Baracke, in der der Offizier die Bombe zündete.
Als im Januar 1945 die Rote Armee immer näher rückte, entschied die Naziführung, das Quartier zu sprengen. Zurück blieben teils bizarr verdrehte Ruinen, die wie Urzeitkreaturen den Wald bevölkern – überzogen von Flechten und Moos, überwuchert von Gras und Farnen. Auf dem feuchten Beton sprießen Unkraut und junge Birken. Es ist eine unwirkliche und unheimliche Atmosphäre, die man – auch wegen der Mücken – nach zwei Stunden gern und erleichtert wieder verlässt, um sich wieder den schönen Dingen zu widmen.
Zum Beispiel der masurischen Natur: Seen über Seen – mal einsam mit Klischeekanu im Schilf, mal voller Segelboote im Wassersportrevier. Wolken über Wolken – mal strahlend weiß, mal dramatisch schwarz. Hügel über Hügel voller Mohn, Raps und Kornblumen. Alleen über Alleen mit geschlossenen grünen Dächern. Störche über Störche, die manchmal wirklich jeden Strommast im Dorf besetzen. Und nicht zuletzt Libellen über Libellen, die für die letzten Glücksgefühle auf dieser Reise sorgen – im grünen Tunnel der Krutynia, dem schönsten Paddelrevier im ganzen Land.