Montag,
23.04.2018 - 00:00
4 min
Die Unglückliche – Andrea Nahles startet als erste SPD-Vorsitzende mit einem bitteren Beigeschmack

Von Reinhard Breidenbach
Leitung Politikredaktion, Chefreporter

Nur 66,35 Prozent Zustimmung beim Wiesbadener Parteitag: Das Resultat bei der Vorsitzendenwahl ist für Andrea Nahles mehr als ernüchternd. Foto: Sascha Kopp ( Foto: Sascha Kopp)
WIESBADEN - Keine Schockstarre, denn Andrea Nahles weiß, was Selbstdisziplin heißt. Aber sie sieht unglücklich aus in diesem Moment, und sie teilt damit das Schicksal so vieler in der SPD derzeit. Vielleicht ist die SPD insgesamt im Augenblick eine unglückliche Partei, die sich finden und berappeln muss. Es ist 14.15 Uhr. Zweieinviertel Stunden nach Zwölf, würden SPD-Gegner sagen. Nahles hat das Ergebnis zur Vorsitzendenwahl vernommen. Von 624 Stimmen 414 für sie, 172 für Simone Lange, die absolute Außenseiterin. 66,35 Prozent für die hohe Favoritin. Nur. Realistische unter den Nahles-Anhängern, wie der rheinland-pfälzische Landeschef Roger Lewentz, hatten zuvor geurteilt, eine „7“ solle schon vorm Komma stehen. Unruhe in der Halle, viele Delegierte wissen nicht so recht: lachen oder weinen? Applaudieren, falls ja: wie stark? Lewentz sagt am Rande: „Das Ergebnis spiegelt die Verunsicherung in der Partei.“
Simone Langes Resultat ist weit besser als ihre Rede
Malu Dreyer steht in weiblich-rheinland-pfälzischer Solidarität fest an Nahles‘ Seite: „Sie ist Profi genug, mit dem Ergebnis umzugehen“, befindet sie im kleinen Kreis. Es sei ja auch kein schlechtes Ergebnis...
Simone Lange jedenfalls bekommt ein Ergebnis, das sich sehr viel besser anfühlt als ihre Bewerbungsrede. „Ich bin die Richtige für die Erneuerung der SPD“, verkündet sie sehr forsch. „Wenn wir jetzt nicht mutig sind, weiß ich nicht, ob wir‘s in Zukunft noch sein können.“ Mit den Hartz-IV-Gesetzen habe die SPD viele Menschen schwer enttäuscht, „dafür möchte ich mich entschuldigen.“ Als sie von wichtigen Gesten in der Politik spricht, erwähnt sie den Kniefall Willy Brandts 1970 im Warschauer Getto. Drunter macht sie‘s nicht.
„Rechtspopulisten sind hochgefährlich“
Bei Andrea Nahles ist es umgekehrt, ihr Ergebnis ist schlechter als ihre Bewerbungsrede. Sie zieht alle Register. Kämpft. Mit Kraft. Auch mit Charme. „Meine Mutter ist heute hier, hallo Mama.“ Es sei höchste Zeit, dass die gläserne Decke, an die Frauen bei der Karriere meistens stießen, nun in der SPD durchbrochen werde, mit der Wahl der ersten Vorsitzenden in 155 Jahren.
„Solidarität“ ist das Kernthema für Andrea Nahles. Wie viele andere Rednerinnen und Redner an diesem Tag beschwört sie das Zusammenhalten in der Partei, noch stärker aber die Hinwendung zu den Schwachen in der Gesellschaft. Nahles schmeichelt den Gewerkschaften. „Wir sind der starke Arm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wer, wenn nicht wir?“, donnert sie in den Saal. Sie erntet dicken Applaus an dieser Stelle, überhaupt recht oft in ihrer Rede. Wie viele von denen, die ihr da zujubeln, später Simone Lange wählen – man wird es nie erfahren. Ihren schärfsten Generalangriff startet Nahles gegen Rechtspopulisten, in Sonderheit gegen Donald Trump: „Er radiert das Prinzip Solidarität gerade aus.“ Rechtspopulisten seien hochgefährlich, „ich verachte sie, diese Kräfte sind ein Angriff auf das Volk.“
Nahles wettert auch gegen Steueroasen und Internet-Giganten. Es klingt hart, laut und gut durchdacht. Sie kann auch sanft, ohne dass es kitschig wird. „Ich glaube, dass man die Welt mit demokratischen Mitteln besser machen kann.“ Deshalb habe sie vor 30 Jahren in der Eifel einen SPD-Ortsverein gegründet, und deshalb kandidiere sie jetzt als Vorsitzende.
Nahles weiß natürlich, wo es wehtut. „Wir brauchen eine Sozialstaatsreform.“ Aber dann kommt das „Aber“: „Aber wenn wir die Hartz-IV-Regeln abschaffen, habe wir noch nichts erreicht.“ Exakt dieses „Aber“ treibt die Partei nach wie vor gewaltig um. Das ist die fürchterlich wunde Stelle, das zeigt sich in Wiesbaden einmal mehr. Der Parteivorstand präsentiert einen Antrag: Das Hartz-Thema brauche eine ausgiebige Debatte, Monate, vielleicht länger. Damit finden sich die Jusos nicht ab. Mit Hingabe und in kernigen Tönen wird debattiert. Man müsse weg von der „Anbetung der schwarzen Null“, sagen die Jusos, weg von der Schuldenbremse. Vieles hat sich da offenbar aufgestaut. Und: Dinge kommen hinzu, die in Westdeutschland niemand so recht hören will. Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping spricht in Wiesbaden von einer „gekränkten und gedemütigten Arbeitnehmerschaft“, fordert: „Wir brauchen eine Aufarbeitung der Nachwendezeit.“
Schulz hält eine fulminante Rede – fast wie damals
Martin Schulz sitzt ganz vorne, neben ehemaligen Vorsitzenden wie Kurt Beck, Franz Müntefering und Rudolf Scharping. Am Anfang dieses Tages wirkt er ein wenig verloren dort. Am Ende des Tages, als die neue Vorsitzende ihm für die Partei in bewegten Worten dankt, hält er eine fulminante Rede. Fast wie damals, als alles für ihn begann. „Es gibt Momente“, sagt er, „in denen man in seiner Seele berührt ist.“ Er scheide ohne Zorn und Bitterkeit. Er donnert gegen die Rechtspopulisten: Wenn die sich durchsetzten, gebe es Krieg. Ein einiges Europa sei der einzige Weg, das zu verhindern. Innerhalb einer Partei „muss man sich nicht immer lieben.“ Wie wahr. Er hat eine Botschaft für Nahles: „Du brauchst den Rücken frei, um dich mit dem politischen Gegner auseinander zu setzen.“ Seit diesem Sonntag ist Andrea Nahles das wohl schmerzlicher bewusst als je zuvor.