"NSU 2.0"-Drohmails: Was wir bisher wissen

Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) erklärt, dass bereits 17 Betroffene keine Polizisten mehr seien. Foto: Arne Dedert/dpa
© Arne Dedert/dpa

Die Serie der "NSU 2.0"-Drohschreiben gegen Frauen des öffentlichen Lebens reißt nicht ab - wer dahintersteckt, ist unklar. Der aktuelle Stand der Dinge.

Anzeige

WIESBADEN/FRANKFURT/BERLIN. Fast zwei Jahre sind seit Beginn der "NSU 2.0"-Drohschreiben vergangen, in den vergangenen Wochen hat sich die Zahl der Adressaten vergrößert. Politikerinnen und andere Frauen des öffentlichen Lebens wurden mit dem Tod bedroht. In zumindest drei Fällen wurden öffentlich nicht zugängliche Daten von Polizeicomputern in Hessen abgerufen. Bislang konnte kein Täter ermittelt werden. Was ist bisher über den Fall bekannt ist:

Wer ist von den Drohschreiben betroffen? Die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz erhielt im August 2018 das erste "NSU 2.0"-Drohschreiben. Wie erst vor wenigen Tagen bekannt wurde, erhielt die Kabarettistin Idil Baydar bereits im März 2019 ein erstes Drohschreiben. Anfang Juli wurde öffentlich, dass Janine Wissler, die Fraktionsvorsitzende der Linken im hessischen Landtag, mit "NSU 2.0" unterzeichnete Drohschreiben erhielt. In den vergangenen Tagen bekamen auch Linken-Politikerinnen außerhalb Hessens schriftliche Drohungen. Ob auch ihre Daten von Polizeirechnern abgefragt worden sind, ist bisher unklar. Die Ermittlungen zu diesen Fällen wurden mittlerweile an das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt angeschlossen.

Wie ist der Stand der Ermittlungen? "Wir ermitteln unter Hochdruck", heißt es bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt. Ein Durchbruch ist jedoch nach nahezu zwei Jahren nicht erzielt worden. Das Auftauchen neuer Mails mache "die Sache nicht leichter", hieß es. Die Frankfurter Strafverfolger haben mittlerweile auch die Untersuchungen zu den nach Berlin versandten Mails an die Kabarettistin Idil Baydar und Politikerinnen der Linken übernommen. In der vergangenen Woche nahm zudem ein Sonderermittler im Auftrag des hessischen Innenministeriums die Arbeit auf. "Ziel ist es, den oder die Täter aus der Anonymität zu reißen", sagte Innenminister Peter Beuth (CDU). Dafür würden dem Sonderermittler alle technischen und personellen Ressourcen zur Verfügung stehen.

Anzeige

Dürfen Polizisten ohne weiteres persönliche Daten abrufen? Ohne einen dienstlichen Anlass dürfen diese Daten nicht abgerufen werden. Nach Angaben des Innenministeriums werden Anfragen im Bereich der Personensuche automatisch protokolliert. Bei Verdacht von Missbrauchsfällen werden behördenintern Ermittlungen eingeleitet und bei Bedarf das Hessische Polizeipräsidium für Technik zur technischen Auswertung hinzugezogen. Im vergangenen Jahr erhielt die Auswertestelle 192 Prüfungsanträge. Je nach Ergebnis der Auswertung führen diese Prüfungen zu strafrechtlichen Ermittlungen oder Disziplinarverfahren. Innenminister Beuth hat diese Woche angekündigt, dass alle Polizisten neue Zugangsdaten erhalten werden.

Könnten Polizeicomputer gehackt worden sein? Nach Angaben der Staatsanwaltschaft gab es keine Hinweise, dass jemand von außen in das System eingedrungen ist. Unmöglich ist es laut der Gewerkschaft der Polizei aber nicht: "Es sind schon ganz andere Systeme gehackt worden", sagte GdP-Vorsitzender Andreas Grün. Um Polizeidaten abzufragen, braucht der Unbekannte Zugangsdaten und Zugriff auf einen Polizeicomputer - sei es per Hack oder physisch. Für letzteres muss er nicht zwangsläufig in ein Polizeipräsidium: Auch über tragbare Geräte sei das möglich.

Stammen alle Schreiben vom gleichen Verfasser? Gerade bei Straftaten, die viel Aufmerksamkeit erregen, besteht die Möglichkeit von "Trittbrettfahrern". Die Staatsanwaltschaft hält sich aus ermittlungstaktischen Gründen mit Details zu den Schreiben zurück. Es heißt lediglich, sie seien alle im "gleichen Duktus" verfasst. Ob es Hinweise technischer Art gibt, dass die Mails vom selben Verfasser sind ist unklar. Grundsätzlich haben es Ermittler hier aber sehr schwer: Mit vergleichsweise wenig Aufwand lassen sich Absender verschleiern oder fälschen. Wer also Wissen über den Inhalt vergangener Drohschreiben hat, könnte auch neue versenden, selbst wenn er nicht der Verfasser der ursprünglichen Schreiben ist.

Gibt es ein rechtes Netzwerk bei der Polizei? Innenminister Beuth hat vor kurzem nicht mehr ausgeschlossen, dass es ein solches Netzwerk in der hessischen Polizei geben könnte. Der GdP-Landesvorsitzende Andreas Grün hält das dagegen für unwahrscheinlich. Es gebe keine Anzeichen und keine belastbaren Hinweise für ein vernetztes Treiben. "Möglicherweise sind die illegalen Abfragen beziehungsweise auch das Versenden der Drohmails ein oder zwei Personen zuzuordnen. Da ein Netzwerk zu konstruieren, das halten wir, so wie sich die Lage darstellt, nicht für geboten." Dass es trotz seit Jahren laufender Ermittlungen immer wieder Abfragen gab, mache einen "fassungslos", sagte Grün. Wer auch immer das mache, gehe ein hohes Risiko der Entdeckung ein.

Welche Bedeutung hat die Bezeichnung "NSU 2.0"? Der Name bezieht sich auf die Terrorgruppe NSU ("Nationalsozialistischer Untergrund"), die zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordete, die meisten der Opfer hatten Migrationshintergrund. Lange Zeit ging die Polizei nicht von einem rechtsextremen Hintergrund der Taten aus, sondern suchte Motive im persönlichen Umfeld der Opfer. Ermittlungspannen und der Einsatz von V-Männern des Verfassungsschutzes haben seitdem viele Fragen aufgeworfen. Im Münchner NSU-Prozess war die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz, die im Sommer 2018 die ersten "NSU 2.0"-Drohschreiben erhielt, Nebenklagevertreterin einer der Opferfamilien.

Anzeige

Von dpa