Walter Wissenbach und Rainer Rahn verlassen die Partei – und erheben schwere Vorwürfe. Was der Fraktionsvorsitzende Robert Lambrou dazu sagt.
Wiesbaden.Der Exodus in der hessischen AfD geht weiter. Nach dem Austritt der Frankfurter Bundestagsabgeordneten Joana Cotar trifft es diesmal die Landtagsfraktion: Die beiden Abgeordneten Walter Wissenbach und Rainer Rahn erklärten nach dem letzten Tag der Plenarsitzungswoche ihren Austritt und gehören dem Landtag künftig als fraktionslose Mitglieder an. Sie begründeten ihren Schritt mit der inhaltlichen Entwicklung der Partei und dem persönlichen Umgang innerhalb der Landtagsfraktion. Diese wird damit um weitere zwei Sitze kleiner. Die Abgeordnete Alexandra Walter wurde wegen rechtsextremer Äußerungen auf Facebook bereits kurz nach der Landtagskonstituierung 2019 nicht in die Fraktion aufgenommen, Rolf Kahnt wurde 2020 ausgeschlossen. Der 77-Jährige spricht regelmäßig im Landtag während der für die Fraktionslosen vorgesehenen Redezeit.
Diese Partei ist zu einer Schande für Deutschland geworden.
„Diese Partei ist zu einer Schande für Deutschland geworden”, schreibt Wissenbach in einer Pressemitteilung. Der Rechtsanwalt ist seit April 2013 Mitglied in der AfD. „Immer wieder hoffte ich auf positive Veränderungen in dieser Partei, die mich seinerzeit im März 2013 in Oberursel so faszinierte, dass ich spontan eintrat.” Die Aktivitäten des „Flügels”, die Haltung der Partei in Hessen und im Bund zu Corona sowie die Nähe zu Putin seien bedenklich, betont der 65-Jährige. Auch Rahn, der auf der AfD-Landesliste zur Landtagswahl 2018 auf Platz eins stand, erhebt schwere Vorwürfe: „In weiten Teilen der Partei” dominiere inzwischen die Ideologie, die „Abkehr von faktenbasierter und sachorientierter Politik” werde an der hessischen Fraktion besonders deutlich: „Deren parlamentarische ,Arbeit’ ist über weite Strecken geprägt von fachlicher Inkompetenz, die sich in zahllosen Anträgen und Vorlagen mit unsinnigem und teilweise sogar verfassungswidrigem Inhalt zeigt”, kritisiert der Zahnarzt.
Der dpa sagte der 70-jährige Rahn, sein Schritt sei mit Wissenbach abgestimmt. Beide galten in der Landtagsfraktion lange Zeit als isoliert. Bis zum Frühjahr fehlten die beiden Abgeordneten sogar in einer Übersicht auf der AfD-Website. Partei- und Fraktionsvorsitzender Robert Lambrou bestritt dies, darauf angesprochen, beim Interview mit dieser Zeitung. In einer Pressemitteilung, mit der die AfD nun auf die Austritte reagierte, warf er beiden vor, ihre Vorwürfe „bilden nicht die Realität ab, sondern sind Ausdruck ihrer persönlichen Enttäuschung”. Bei der Aufstellungsversammlung zur AfD-Liste für die Landtagswahl 2023 im Oktober in Melsungen waren sie erfolglos – „wären sie jetzt auch aus der Partei und der Fraktion ausgetreten, wenn sie bei der Listenaufstellung Erfolg gehabt hätten”, fragt Lambrou rhetorisch. Und tritt nach: „Es wäre schön gewesen, wenn beide Kollegen wesentlich öfter zu Fraktionssitzungen gekommen wären und sich dort konstruktiver eingebracht hätten.“
Wissenbach wiederum geißelt Ton und Umgangsformen in der Fraktion – „sowohl unter den Abgeordneten als auch gegenüber den Mitarbeitern”. Vergeblich habe er versucht, die vom Fraktionsvorstand „mit Stasimethoden inszenierten Fraktionsausschlussverfahren gegen zwei der verdienstvollsten und respektabelsten Abgeordneten zu verhindern”. Gemeint ist ein Dossier mit aufgelisteten Verfehlungen Rahns. Er habe „gegen ein Geflecht aus Intrigen, Lügen und Fälschungen” gekämpft, betont Wissenbach. In Melsungen erlebte er nach eigenen Worten die „Farce einer vorab bis ins Detail orchestrierten Wahl der Listenkandidaten für die Landtagswahl im Oktober 2023 auf der Grundlage vorab aufgestellter und den Delegierten als verbindlich dargestellter Listen”.
Wissenbach, Rahn und Co. als Stimmenbeschaffer für Boris Rhein?
Er werde künftig seine „konstruktive Arbeit im Hessischen Landtag fortsetzen, soweit das einem partei- und fraktionslosem Abgeordneten rechtlich und tatsächlich möglich ist”, kündigte Wissenbach an. Der Schritt hat auch Konsequenzen für die Wahl im Herbst 2023, bei der Parteilose schlechte Chancen haben, in den Landtag einzuziehen. Nicht zuletzt deshalb galten Wissenbach und Rahn, neben den beiden Fraktionslosen Walter und Kahnt sowie dem – innerhalb der AfD mittlerweile ebenfalls kaltgestellten – Ex-Landesvorsitzenden Klaus Herrmann, als Beschaffer der fünf überzähligen Stimmen bei der Ministerpräsidentenwahl Ende Mai. Ihr Motiv könnte gewesen sein, ein mögliches Scheitern Boris Rheins (CDU) zu verhindern – und damit Neuwahlen.