Nochmal boostern - oder besser warten?

aus Coronavirus-Pandemie

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Viel hilft viel? Für den Immunologen Andreas Radbruch liegen nicht kategorisch nur Vorteile in zusätzlichen Auffrischimpfungen.  Foto: Brad Pict - stock.adobe

Der Immunologe Andreas Radbruch erklärt, warum zu viele Auffrischimpfungen aus seiner Sicht nichts bringen und was er im Herbst erwartet.

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BERLIN. In Portugal hat die Omikron-Variante BA.5 eine neue Infektionswelle ausgelöst. Viele Menschen fragen sich hierzulande, ob sie dagegen geschützt sind. Diese Frage beantwortet der Immunologe Andreas Radbruch. Der Leiter des Leibniz Institut Deutsches Rheuma-Forschungszentrum erklärt außerdem, warum ständiges Boostern nichts nützt und wieso wir aus seiner Sicht entspannt in den Herbst gehen können.

Professor Radbruch, zurzeit breitet sich BA.5 aus. Viele Menschen fragen sich, ob ihr Impfschutz dagegen noch schützt.

Da muss man zunächst zwischen dem Schutz vor einer Infektion und dem Schutz vor schwerer Erkrankung unterscheiden. Um vor der Infektion geschützt zu sein, müssen Antikörper im Schleim der Atemwege vorhanden sein. Diese verhindern, dass das Virus an die Hautzellen der Atemwege andockt. Diese Antikörper müssen da erst einmal hinkommen, denn sie werden von Plasmazellen gebildet, die sich im Inneren des Körpers befinden - vor allem im Knochenmark. Nur weil Antikörper im Blut über lange Zeit stabil nachweisbar sind, heißt das noch lange nicht, dass sie auch auf den Schleimhäuten vorhanden sind. Diese erste Barriere, der Schutz vor Infektion, ist offenbar nicht so stabil. Mit einer Ausnahme: Wenn jemand infiziert war und zusätzlich geimpft wurde, ist er auch nach einem Jahr noch zu 90 Prozent vor erneuter Infektion mit dem Virus geschützt.

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Und wie stabil ist der Schutz vor schweren Erkrankungen?

Wenn das Virus erst einmal die Haut der Atemwege durchbrochen hat und ins Körperinnere kommt, sind diese Antikörper gar nicht mehr so wichtig. Dann hat der Körper viele Methoden, um mit Viren und von Viren befallenen Zellen fertigzuwerden. Da gibt es andere Antikörper im Blut, die die Viren verklumpen, sie für Fresszellen markieren und so daran hindern, neue Zellen zu infizieren. Dann gibt es T- und NK-Lymphozyten (natürliche Killerzellen), die die virusinfizierten Zellen gezielt abtöten. Und diese ganzen Komponenten der Immunität verhindern langfristig schwere Erkrankungen. Selbst wenn die Immunreaktion gegen den Impfstoff oder die Viren schon vorüber ist, bleiben uns spezifische Immunzellen erhalten, auch die Plasmazellen, die die Antikörper bilden. Diese Zellen bilden das "immunologische Gedächtnis".

Was heißt denn, dass sie langfristig da sind?

Die Plasmazellen ziehen sich ins Knochenmark zurück und werden dort über Jahrzehnte von speziellen Ammenzellen am Leben gehalten. Sie sind Antikörperfabriken, die jede Sekunde Tausende von Antikörpern ins Blut ausschütten. Antikörper gegen Sars-CoV-1, das 2003 grassierte, konnten bei Genesenen auch 17 Jahre später noch in der gleichen Menge nachgewiesen werden wie ein Jahr nach der Infektion. Auch bei Masern und vielen anderen Impfstoffen und Infektionserregern hält der Schutz über Jahrzehnte, oft ein Leben lang.

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Das heißt also, alle, die genesen, geimpft und geboostert sind, sind nun gut geschützt?

Wer zwei- oder dreimal geimpft ist, hat diesen systemischen Schutz, also die Immunität, die den ganzen Körper betrifft. Soweit ich weiß, sind in Südafrika, wo die BA.5-Variante entstand und die dominante Variante ist, die Zahlen der intensivpflichtigen Patienten und der Todesfälle nicht gestiegen.

In Portugal sind die Todeszahlen allerdings schon gestiegen, wenn auch auf vergleichsweise niedrigem Niveau.

Ich glaube, das hat aber eher damit zu tun, dass dort die Zahl der Infektionen so rasant gestiegen ist. In Südafrika ist die Inzidenz noch immer sehr niedrig, sie liegt dort bei etwa 40. In Portugal liegt sie bei ungefähr 2000. Und kein Schutz ist 100-prozentig. Selbst, wenn der Schutz 99 Prozent betragen würde, würde es zehnmal mehr schwere Verläufe geben, wenn zehnmal mehr Menschen infiziert sind.

Warum bringt ständiges Boostern nichts?

Das immunologische Gedächtnis passt uns an die Krankheitserreger in unserer Umgebung an. Es schützt uns spezifisch vor einem Erreger, der uns in einer bestimmten Konzentration über einen bestimmten Weg infiziert. Es arbeitet nachhaltig und es macht nicht mehr als das, was es dafür tun muss.

Was bedeutet das?

Es kann dann zwar noch zu einer Infektion kommen, aber sobald das Virus die Blut-Lungen-Schranke durchbricht, sind im Blut genug Antikörper, dass das Virus nicht mehr weiterkommt. Und wenn ein Impfstoff ins Gewebe gespritzt wird, wird das Antigen von den Antikörpern im Blut auch abgefangen, bevor es eine Immunreaktion auslösen kann.

So entstehen durch die ersten Immunreaktionen immer mehr antikörperabsondernde Plasmazellen. Wenn es genug Antikörper gibt, um mit der üblichen Menge an Antigen fertig zu werden, dann kommt es gar nicht mehr zu einer Immunreaktion durch die Gedächtnis-Lymphozyten, die die zweite Schutzlinie bilden. Diese "Sättigung des Immunsystems" erreichen wir jetzt mit den Impfstoffen. Die dritte Impfung hat noch einen sehr starken Anstieg an Antikörpern gebracht. Bei der vierten ist er nicht mehr so stark.

Und deshalb bringt die vierte Impfung nicht mehr so viel?

Wichtig ist dabei auch, dass bei einer erfolgreichen Immunreaktion das Antigen immer weniger wird. Deshalb werden am Ende nur noch Zellen aktiviert, die sehr gut bindende Antikörper machen, Antikörper, die das Antigen auch noch erkennen, wenn es leicht verändert ist. Die Zellen, die diese Antikörper machen, werden dann ins immunologische Gedächtnis rekrutiert. In dieser Phase haben wir dann zwar nicht mehr so viele Antikörper wie am Anfang der Immunreaktion, dafür aber sehr viel bessere.

Der Antikörperspiegel gegen Sars-CoV-2 ist bei Genesenen und bei dreimal Geimpften ungefähr genauso hoch wie der gegen Tetanus. Und das ist ein ordentliches immunologisches Gedächtnis. Die vierte Impfung bringt nicht mehr so viel zusätzlich. Hinzu kommt, dass die Antikörper innerhalb von wenigen Monaten wieder von den Schleimhäuten verschwinden, wir also nur kurzfristig vor Infektionen geschützt sind. Wenn man jetzt noch ein fünftes oder sechstes Mal impft, passiert voraussichtlich noch weniger und ob es dann überhaupt noch einen Schutz vor Infektionen gibt, ist fraglich.

Aber ist das denn schädlich?

Es gibt den Begriff der "antigenen Sünde": Wenn das immunologische Gedächtnis satt ist und dann eine Variante kommt, die zwar noch erkannt wird, aber nicht unbedingt neutralisiert wird, dann ist die Immunreaktion schwächer als sie sein könnte. Im schlimmsten Fall gibt es gar keine Reaktion. Das heißt, man prägt das Immunsystem auf eine bestimmte Weise und es verliert dadurch an Flexibilität.

Wenn das immunologische Gedächtnis jedoch noch nicht satt ist, und dann von einer neuen Variante oder von einem angepassten Impfstoff gereizt würde, würde es sich hingegen noch einmal ins Zeug legen. Das heißt, zweimal Geimpfte machen dann eine bessere Immunantwort als viermal Geimpfte.

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Es wurden aber doch schon viele ältere Menschen viermal geimpft.

Weil das Immunsystem der über 80-Jährigen einmal mehr gebeten werden muss. Das hat dann erst nach der vierten Impfung den Stand, den jüngere Menschen schon nach drei Impfungen haben. Das kann man noch gut vertreten. Nur, wenn es jetzt darum geht, alle viermal impfen zu lassen, dann könnte man sich möglicherweise sozusagen "ins Knie schießen".

Können wir denn entspannt in den Herbst gehen?

In Südafrika klingt die BA.5-Welle schon wieder ab. Die beruhigende Nachricht ist, dass BA.5 aufgrund einer der Mutationen Schwierigkeiten hat, seine Zielzellen zu infizieren. Ich denke, man kann eigentlich ganz gut durch den Sommer gehen und erst einmal abwarten, was im Herbst passiert. Falls dann noch eine neue Variante auftaucht, die den Immunschutz vielleicht sogar komplett aushebelt, dann haben wir ja die mRNA-Technologie, mit der neue Impfstoffe in ungeahnter Geschwindigkeit gemacht werden können.