Samstag,
30.11.2019 - 21:00
5 min
Klischees und Übergriffe: Rassismus im Alltag

Von Birgit Schenk
Editorin Zentraldesk, Redakteurin Leben und Wissen

Sängerin Menna Mulugeta hat rheinhessische Wurzeln. (Foto: Joschka Link)
Hat Ihnen ein Fremder im Supermarkt schon mal unversehens in die Haare gefasst? Oder Ihr Deutsch gelobt und nach nur kurzer Bekanntschaft neugierig wissen wollen, woher Ihre Vorfahren stammen? Ihnen nachgerufen, Sie gingen besser dahin zurück, wo Sie herkommen? Sie finden das unverschämt? Sehen Millionen Deutsche ganz genauso. Nur: Sie sind einem derart übergriffigem Verhalten fast täglich ausgesetzt. Weil sie einen ungewöhnlich klingenden Namen tragen – oder anders aussehen als die Mehrheitsgesellschaft. Die alles, was abweicht von dem, was sie für die „Norm“ hält, gerne in Klischee-Schubladen einsortiert.
Auf einer, nur zum Beispiel, steht „Asiaten sind fleißig“. Auf einer anderen: „Schwarze haben Musik im Blut“. Ein Etikett, über das Menna Mulugeta fast lachen muss. Fast – wäre es nur nicht so kräftezehrend, ständig dagegen ankämpfen zu müssen, in Schubladen gesteckt zu werden. Mulugeta ist Deutsche, in Wiesbaden geboren, schwarz, eine kluge, zurückhaltende junge Frau, die ihre Worte mit Bedacht wählt. „Musikalisch betrachtet, bin ich sozusagen das bunte Schaf in meiner Familie“, straft die „Voice of Germany“-Sängerin das Stereotyp von Menschen, deren Hautfarbe angeblich „Musik im Blut“ signalisiert, Lügen. Ihre Eltern: „Brave Apotheker“, die noch nie durch Sangeskünste aufgefallen seien, genauso wenig wie die übrigen Mulugetas, versichert die 27-Jährige. Aufgewachsen ist sie in Weiler bei Bingen – die Eltern, beide aus Äthiopien, haben sich während des Studiums in Deutschland kennengelernt und hier niedergelassen. In Weiler gehört die Familie zur Dorfgemeinschaft, war „über Krabbelgruppe und Vereine“ von Anfang an integriert. Und doch kennt Menna Mulugeta sie zur Genüge: Bemerkungen, die auf ihr „Anderssein“ abzielen, sie ausgrenzen.
Wenn die Neugier über die Würde des Gegenübers gestellt wird
Unlängst, im Café, attestiert ihr eine Dame am Nebentisch „fantastisches Deutsch“ – „besser als Deins“ ruft deren Ehemann auf Rheinhessisch seiner Angetrauten zu – geradeso, als ob Deutsch- und Schwarzsein nicht zusammengingen. Es ärgert die Künstlerin, wenn eine „schwarze Soulsängerin“ gesucht wird („will nicht wegen meiner Hautfarbe gebucht werden“), Fragen wie „Sprichst du afrikanisch“ kontert sie routiniert mit „Sprichst du europäisch?“. Erst neulich wieder musste sie mit einer geschickten Körperdrehung dem Griff eines Unbekannten in ihre Locken ausweichen.
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Menschen wie Mulugeta widerfährt das, was unter dem Stichwort „Alltagsrassismus“ firmiert. So wie die Polizeistatistik von einer Zunahme rassistisch motivierter Straftaten spricht (1664 Fälle im Jahr 2018 – 400 mehr als im Vorjahr), häufen sich die Berichte von Misstrauen und abwertenden Blicken auf dem Amt, bei der Job- oder Wohnungssuche bis hin zu nur vermeintlich freundlichen Äußerungen, die alle eines gemein haben: dem anderen das Gefühl zu vermitteln, dass er nicht dazugehört, die ihm aufgrund von Hautfarbe oder Herkunft Eigenschaften zuschreiben, die ihn von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden.
Mulugeta verwendet den Begriff „Rassismus“ äußerst vorsichtig. Zieht feine Linien zwischen „Hasstiraden“ und ausgrenzenden, „aber nicht böse gemeinten“ Bemerkungen. Doch bei allem Verständnis: Sich zu erkundigen, ob ein Griff in die Haare erlaubt sei, „geht gar nicht“, empört sich Mulugeta. Fragestellern sei oft gar nicht bewusst, welchen Herrschaftsanspruch sie ausstrahlten, mit diesem Blick „von oben herab“ und der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Neugier über die Würde des Gegenübers stellen. „Ich frage ja auch niemanden beim ersten Treffen, ob er schwul ist“, verwahrt sich die junge Frau gegen plumpe Erkundigungen. Feingefühl statt Zudringlichkeit wünscht sie sich von der Mehrheitsgesellschaft – und Bereitschaft zur Selbstkritik.
Ein heikles Thema, denn geht es um Rassismus, halten sich die meisten für unverdächtig. Schalten reflexhaft um auf Abwehr, weigern sich, eigene Denkmuster zu überprüfen. Mulugeta kennt diesen Mechanismus. „Als das Thema ,Transgender‘ aufkam, fehlte auch mir erst mal das Verständnis für die Problematik, weil ich in meinem Umfeld keine Trans*-Menschen kannte. Bis ich mich damit auseinandergesetzt habe. Weil mein Credo lautet: die Anliegen der Betroffenen ernstnehmen.“ Lernen statt Abwehren, für Mulugeta eine Herausforderung, die sie annimmt. „Wer wie ich von klein auf die Welt aus der Perspektive einer Minderheit betrachtet und das Anderssein selbst erlebt, entwickelt ein Gespür dafür, was andere umtreibt.“
Dass Mulugeta von ihren mitunter verstörenden Erlebnissen als schwarze Deutsche freimütig erzählt, ist alles andere als selbstverständlich. Über Zudringlichkeiten, rassistische Formulierungen, Feindseligkeiten berichten auch der in Leipzig geborene Student vietnamesischer Eltern oder die Sozialpädagogin mit ghanaischen Wurzeln. Nur: Sie möchten nicht mit ihren Namen an die Öffentlichkeit gehen. Zu groß die Angst, bei ihrem Umfeld, dem sie den Spiegel vorhalten, anzuecken. „Ja, es gibt rassistische Strukturen“, bestätigt die in Darmstadt lebende Pädagogin und zitiert Statistiken, wonach Kinder mit Migrationshintergrund deutlich geringere Bildungschancen haben. „Diese Strukturen werden weder thematisiert noch aufgearbeitet.“ Wo sie herrühren? Die 34-Jährige verweist, zum Beispiel, auf ihre Schulzeit. „Im Unterricht ging es um Rassismus in den USA oder das britische Imperium. Aber von der deutschen Kolonialvergangenheit und wie sie das Denken geprägt hat: kein Wort.“
„Rassismus war nie weg, er wird nur offener kommuniziert.“
Zu denen, die der alltägliche Rassismus umtreibt, gehört Juan, Mitte 40, ein echter „Meenzer“, dessen Eltern Anfang der 1970er-Jahre aus Südostasien als medizinisches Personal ins Land gerufen wurden. Auch Juan will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Der Unternehmer, fürchtet, Kunden zu verprellen. Was er in jüngster Zeit so alles erlebt hat? Den älteren Herrn, der ihn einfach duzt. Die Dame, die mit ihm, der sechs Sprachen beherrscht, gebrochen Deutsch radebrecht. Den Mann, der, als sein Anliegen nicht sofort erfüllt wird, Juan ein „Ihr gehört alle erschossen“ zuruft und von „vergasen“ schwafelt. Und neulich fiel der Satz: „Das hätte es früher nicht gegeben – ein schwarzer Chef in einem deutschen Laden.“ Klingt, als ob Menna Mulugeta recht habe: „Rassismus war nie weg, er wird nur – vorgeblich aus Angst um die Gesellschaft – offener kommuniziert.“
Juan war 18, als ihn Halbwüchsige bei einem Dorffest tätlich angriffen. „Ich war völlig perplex, als ich den Hass in ihren Augen sah.“ Juan hatte sich bis dahin nie als „anders“ empfunden. Hatten ihn doch die Eltern „deutscher als deutsch“ erzogen, „zwischen 12 und 15 Uhr mussten wir Kinder mucksmäuschenstill sein, weil, so hieß es, in dieser Zeit die älteren Deutschen schlafen“. Bis ihm dämmert, dass es Menschen gibt, die sich an seinem Aussehen stören. Juans Eltern, Geschwister, Ehepartner, die Nichten und Neffen: Sie alle sind Deutsche. Und in Angst. Vor Rassisten, Extremisten, dem Rechtsruck in Europa. Juans Lieblingsfach war Geschichte: „Hitler reichten 33 Prozent, um an die Macht zu kommen. Wer nicht rechzeitig floh, hat nicht überlebt.“ Juans Familie besorgt sich jetzt Reisepässe. Um sich, wenn’s ernst wird, in Sicherheit zu bringen. Vielleicht in Südostasien. Juan ist zuversichtlich, dass man sie dort aufnimmt: „Wir gelten als fleißig. Deutsche haben einen guten Ruf.“