Elf Jahre lang wurden die Opfer im NSU-Prozess als Kriminelle behandelt, ihre Familien mit endlosen Fragen gequält. Die Ausstellung von Birgit Mair gibt ihnen nun ein Gesicht.
WORMS. Bei der Eröffnung der Wanderausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ im Rathaus erinnerte Claudia Koch, Fachkoordinierungsstelle Demokratie Leben!, an Max Frischs 1958 uraufgeführtes, aber schon lange vorher geplantes Drama „Biedermann und die Brandstifter“, in dem ein Bürger zwei Brandstifter in sein Haus aufnimmt, obwohl sie von Anfang an klar erkennen lassen, dass sie es anzünden werden. Der Umgang der Bundesrepublik mit Neonazis und anderen rechtsextremen Gruppierungen scheint dieser Geschichte auf fatale Weise zu gleichen.
Hintergründe bis heute nicht aufgeklärt
Elf Jahre lang wurde Rassismus als Motiv für die Morde an neun Menschen mit Migrationshintergrund ausgeschlossen, die Opfer wurden als Kriminelle behandelt, ihre Familien mit endlosen Fragen gequält. Leider sei es bei diesem so wichtigen NSU-Prozess nur um die Schuld der Angeklagten gegangen, sagte Claudia Koch, nicht um die Aufklärung der Hintergründe, die Netzwerke, die Versäumnisse und möglichen Verstrickungen des Verfassungsschutzes. Deshalb müsse die Diskussion weitergehen. „Die letzten Tage haben gezeigt, dass wir uns mit aller Kraft für die Demokratie einsetzen müssen.“
Oberbürgermeister Michael Kissel betonte, wie wichtig es ihm sei, dass diese Ausstellung, die von Demokratie Leben!, dem Bündnis gegen Nazi-Aufmärsche und dem DGB Stadtverband nach Worms geholt wurde, gerade im Rathaus, als Ort des demokratischen Diskurses gezeigt werde. Auch er war der Meinung, dass der NSU-Prozess nur an der Oberfläche gekratzt habe. Bei der Ermittlung der Morde, Bombenanschläge und Banküberfälle seien die Staatsschutzorgane auf dem rechten Auge blind gewesen. Wie stark rassistisches Gedankengut in Deutschland verbreitet sei, zeigten Umfrageergebnisse, auch die Sitzverteilung im Parlament. Dem Ansinnen, dass Neo-Nazis Schutzzonen für Deutsche, auch in Worms, propagierten, müsse offensiv begegnet werden. Diplom-Sozialwirtin Birgit Mair, die die Wanderausstellung im Auftrag des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung (ISFBB) recherchiert und konzipiert hat, rollte danach in einem eindringlichen, sehr emotionalen Vortrag die Geschichte der NSU-Morde auf. Sie begann mit der Tötung des Blumengroßhändlers Enver ŞSimsek, der 2000 in Nürnberg erschossen wurde. Die weiteren Opfer waren Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Mehmet Turgut, Habil Kilic, İIsmail Yasar, Mehmet Kubasik, Theodoros Boulgarides und Halit Yozgat. Sie wurden alle mit derselben Waffe ermordet. Das letzte Mordopfer war die deutsche Polizistin Michèle Kiesewetter. Mair schilderte das Umfeld der Menschen und ihre Familien, zu nahezu allen Angehörigen hat sie persönlichen Kontakt. Intensiv habe sie die Arbeit des bayrischen Untersuchungsausschusses und nun den Prozess verfolgt. Sie berichtete über unübersehbare Anzeichen der rassistischen Motive, denen nie nachgegangen worden sei, über die Vernichtung NSU-relevanter Akten und vieles mehr. Nach wie vor halte man an der Theorie fest, dass Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ein abgeschottetes Trio gewesen seien, während tatsächlich ein größeres Netzwerk vermutet und aufgedeckt werden müsse.
Im Anschluss an den Vortrag gab Angelika Wahl vom Helferkreis Asyl die Anregung, in Worms eine unabhängige Beratungsstelle einzurichten, der man Fälle rassistische Äußerungen und Handlungen mit Aussicht auf Gehör melden könne. Heiner Boegler, Sprecher des Bündnisses gegen Nazi-Aufmärsche, wies auf den Vortrag von Hermann Schaus zum NSU-Untersuchungsausschuss am 18. September, 19 Uhr, im Ratssaal hin.
Von Urike Schäfer