Zum Auftakt der „Jüdischen Kulturtage“ präsentiert Karl E. Grözinger sein neues Buch. Dessen Wert kann nicht hoch genug eingestuft werden, sagte Kulturkoordinator Volker Gallé.
WORMS. Mit dem Buch „Jerusalem am Rhein. Jüdische Geschichten aus Speyer, Worms und Mainz“ hat der Judaist Karl E. Grözinger einen Schatz gehoben, dessen Wert gar nicht hoch genug eingestuft werden kann. Die Legenden, die der Professor für Religionswissenschaft und Jüdische Studien auf Anregung von Volker Gallé, Kulturkoordinator der Stadt, ausgewählt und zum Teil erstmals in deutscher Sprache zugänglich gemacht hat, geben einen reichen Einblick in das Leben und Denken der Schum-Gemeinden.
Zum Auftakt der 14. Jüdischen Kulturtage in Worms in Kooperation mit dem Europäischen Tag der jüdischen Kultur, der in diesem Jahr unter dem Motto „Storytelling – Geschichten erzählen“ stand, wurde das Buch am Sonntagmorgen von Karl E. Grözinger und Volker Gallé in der Synagoge vorgestellt.
Starke Identifikation mit Heimatorten
In seinem Vorwort weist Grözinger darauf hin, in welch hohem Maße die jüdischen Bewohner der Schum-Städte sich mit ihren Heimatorten identifizierten, trotz der steten Unsicherheit, der Verfolgungen und Morde. Aber, so der Autor, sie fühlten sich auch der altjüdisch-orientalischen Tradition verbunden und schufen so eine Verbindung von Orient und Okzident, ein neues deutsches Judentum. Dessen Erzählungen seien aufs engste mit dem christlich-deutschen Volksgut verbunden. Motive, die wir aus Zaubermärchen kennen, Hexen, Fabelwesen, später Magier, seien auch in diesen Legenden anzutreffen. Was die Verehrung heiliger Menschen und Orte betrifft, so spricht Grözinger sogar von derselben religiösen Mentalität. Das Buch ist in acht Kapitel unterteilt. Am Anfang stehen die Gründungslegenden der drei Städte, die bei aller Gemeinsamkeit ein recht unterschiedliches Selbstverständnis hatten. Mainz, die älteste Gemeinde, galt als die Talmud- und Gelehrtenakademie des deutschen Judentums (Aschkenas). Die Juden von Warmaisa sahen sich vor allem als uralte, bürgerliche, politisch und wirtschaftlich erfolgreiche Gemeinde. Ab dem 13. Jahrhundert wurde die Gemeinde auch als Mutter der Kabbalisten bezeichnet. Speyer ist die Stadt der Chassiden, die eine rigoros sündenbewusste Theologie und Ethik vertraten.
Ein Kapitel erzählt von Verfolgung und Leid, das nächste schildert die grauenvollen Pogrome zu Beginn des Ersten Kreuzzugs. Diese Texte seien schon Ende des 19. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt worden, sagte Grözinger, aber weil die Bearbeiter die christliche Mehrheitsgesellschaft nicht provozieren wollten, hätten sie manche der aus der Zeit heraus sehr verständlichen Schmähbezeichnungen für die christliche Religion und Jesus abgemildert. Er habe das rückgängig gemacht, um die Atmosphäre authentisch wiederzugeben.
Weitere Kapitel sind den Speyrer Frommen und den Wormser Wundermännern und Magiern gewidmet. Auch Regensburg als „viertes Standbein“ der Schum-Kultur findet Berücksichtigung, und schließlich hat Grözinger sehr erheiternde Alltagsgeschichten aus den Gerichtsakten aufgenommen.
Gründungsgeschichte von Worms vorgetragen
Zu allen Kapiteln gab es Beispiele zu hören, die der Herausgeber erläuterte und Volker Gallé, meist mit verschmitztem Lächeln, vortrug. Etwa die bekannte, bei Juspa Schammes überlieferte Gründungslegende von Worms, in der die seit 587 v. Chr. hier lebenden Juden aufgefordert wurden, wieder nach Palästina zurückzukehren, um an den Festen teilnehmen zu können. Sie weigerten sich aber, war doch Worms Klein-Jerusalem.
In anderen Erzählungen ging es um die Sicherung des Schum-Weinmonopols, um ein Beispiel herausragender Sabbatfrömmigkeit, um die Begegnung mit einem Toten, der wegen seiner schönen Stimme ins Paradies gekommen war, um einen sich als unhaltbar erweisenden Ritualmordvorwurf, das Brückenwunder des Me‘ir Scha‘‘z anlässlich des Synagogenbaus und eine fast missglückte Geisterbeschwörung mit gutem Ausgang.