Nicht schlafen, Menschenleben retten: Beim Gedenkgottesdienst zur Auschwitz-Befreiung in der Lutherkirche steht ein jüdischer Passfälscher im Mittelpunkt.
Von Ulrike Schäfer
Am Ende des Gottesdienstes verlasen Pfarrer Simon Pascalis (im Bild) und Katja Metzen, stellvertretende Vorsitzende des Kirchenvorstands, die Namen von jüdischen Wormsern, die einst Nachbarn waren.
(Foto: BK/Boris Korpak)
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WORMS - „Wo bist du, Gott, gewesen…als Mord kein Ende fand?“ Mit diesem Lied von Eugen Eckert wurde am Sonntag beim Gedenkgottesdienst zur Befreiung von Auschwitz in der Lutherkirche diese brennende Frage erneut gestellt. Wenn überhaupt eine Antwort gegeben werden kann, dann vielleicht durch solche Texte, wie sie von Pfarrer Simon Pascalis und Katja Metzen, stellvertretende Vorsitzende des Kirchenvorstands, anstelle einer Predigt verlesen wurden. Es handelte sich um Auszüge aus dem Buch „Adolfo Kaminsky. Ein Fälscherleben“, das 2009 von Kaminskys Tochter Sarah veröffentlicht wurde. Kaminsky, Sohn jüdischer Polen, der selbst mit seiner Familie dem Lager Drancy entkam, rettete als Ausweisfälscher zahllosen Menschen, insbesondere Juden, das Leben.
Wie groß das Risiko war, das er einging, schilderte die erste Szene vom Januar 1944, als er in der Metro von SS-Leuten durchsucht wurde. Dies schreckte ihn nicht ab, seinen Weg unbeirrt weiter zu gehen. Als er von einer Razzia auf Dutzende von jüdischen Menschen erfuhr, suchte er sie am Vorabend alle in ihren Wohnungen auf, um ihnen kostenlos Pässe zum Untertauchen herzustellen. Nicht alle nahmen das Angebot an. Eine Dame hielt ihn sogar für eine zwielichtige Person. „Warum sollte ich mich verstecken? Ich bin Französin“, fuhr sie ihn an. Sie glaube der anglo-amerikanischen Propaganda nicht.
Eines Tages wurde Kaminsky von seinem Gewährsmann bei der Résistance vor die unlösbare Aufgabe gestellt, innerhalb von drei Tagen 900 Pässe für Kinder zu fälschen, und machte sich mit seinen Helfern an die Arbeit, obwohl er wusste, dass er das nicht schaffen würde. „Es war ein Wettlauf mit dem Tod. Ich wusste, dass jede Stunde, die ich schlafend verbringe, 30 Menschen das Leben kostet“, trieb er sich an.
Nach dem Krieg wollte er seine Fälschertätigkeit beenden, doch nach einem Besuch in einem der Lager mit Displaced Persons, die illegal nach Israel oder in ein anderes sicheres Land einreisen wollten, und einer verschreckenden Begegnung mit streunenden jüdischen Waisenkindern änderte er seine Meinung. Geleitet wurde er von der Überzeugung, dass jedes Individuum das Recht haben müsse, sich frei zu bewegen. Vier Jahre habe er kein Leben gehabt, seine eigene Familie vernachlässigt, gestand er der Tochter, „doch mein Selbstmitleid war immer sofort verflogen, wenn ein Mensch in Lebensgefahr war.“
Nach dieser erschütternden Lesung, die durch Klaviermusik des 1940 gefallenen französischen Komponisten Jehan Ariste Alain, gespielt von Christian Schmitt, wirkungsvoll unterstrichen wurde, waren Erläuterungen überflüssig. Stattdessen verlasen Pascalis und Metzen die Namen von jüdischen Wormsern des Pfarrbezirks, die einst Nachbarn gewesen waren.