Buchautor Di Fabio beschreibt Martin Luther als Fundamentalisten
Von Ulrike Schäfer
Udo Di Fabio: Freiheit, Gewissen, Verantwortung – Was lehrt uns die Reformation im 21. Jahrhundert?
(Foto: photoagenten/Alessandro Balzarin)
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WORMS - Was lehrt uns die Reformation im 21. Jahrhundert? Dieser bedenkenswerten Frage wollte die Wormser Ethik-Initiative in Kooperation mit der Wormser Zeitung auf den Grund gehen und hatte dazu keinen Geringeren als den Juristen und Buchautoren Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio um einen Vortrag über die reformatorischen Begriffe Freiheit, Gewissen und Verantwortung gebeten. Luther habe an der Schwelle zur Neuzeit alte Verkrustungen aufgebrochen, sagte die Wormser Mäzenin Ilse Lang, Gründerin der Ethik-Initiative, bei der Begrüßung. Heute, im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung, stehe Europa erneut vor einem Umbruch. Welche Bedeutung könnten angesichts dieser Herausforderungen die reformatorischen Begriffe noch haben?
In der festlich beleuchteten und blumengeschmückten Andreaskirche lauschten die zahlreichen Gäste zunächst dem musikalischen Beitrag von Paul Streich, Dozent der Lucie-Kölsch-Musikschule (E-Piano), und dem elfjährigen Frederic Busch (Geige).
Danach ergriff Udo Di Fabio, von 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und seit 2014 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für das 500-jährige Reformationsjubiläum, das Wort. Luther habe die Kirche nicht spalten wollen, befasste er sich zunächst mit den Wurzeln. Ihm sei es um eine Wiedererweckung des Glaubens gegangen. In gewisser Weise sei er also ein Fundamentalist gewesen, aber er habe sich einer sehr modernen Argumentation bedient und die Freiheit des Menschen in den Mittelpunkt gestellt. Luther selbst habe diese Freiheit aus der Beschäftigung mit der Heiligen Schrift gewonnen und daraus eine Vorstellung von Gewissen entwickelt, die ihm den Widerruf in Worms unmöglich gemacht habe. Um jedermann diese Glaubensquelle zugänglich zu machen, habe er die Bibel übersetzt, den Buchdruck genutzt, Volksbildung gefordert.
Freiheit und Verantwortung heute wieder infrage gestellt
Heute, so fuhr der überaus eloquente Redner fort, würden die westlichen Werte wie Freiheit und Verantwortung von den Autokratien der Welt nicht mehr fraglos hingenommen. Die im Grundgesetz definierte Freiheit, die der Redner später auch als absolute Freiheit beschrieb, sei nur im Bezug zum anderen Menschen denkbar, sei erst dann gegeben, wenn man auch den anderen als frei verstehe und akzeptiere.
Die weitreichende Anonymisierung im Netz, die die Urheberschaft von Informationen für den Nutzer nicht mehr identifizierbar mache, stelle die Frage nach Freiheit und Verantwortung neu. Der Referent verharmloste diese Entwicklung zwar nicht, aber er machte Mut, dass sich an den grundlegenden Konditionen nichts geändert habe. "Nach wie vor haben wir die Freiheit zur Entscheidung", sagte er. "Es gibt aber nur Freiheit, wenn ich auch Verantwortung trage, wenn ich hafte für das, was ich tue", betonte er. Ein ganz zentrales Moment sei dabei die Selbstbindung, "das, woran ich glaube". Jeder Unternehmer, jeder Arbeitnehmer gehe eine Bindung ein und fülle sie entsprechend aus. Dass in Deutschland die Berufsethik, auch im Sinne Luthers, eine so große Rolle spiele, sei ein wesentlicher Grund für die beträchtliche Wirtschaftskraft des Landes.
Video-Einspieler mit Schülern der Pestalozzi-Schule, die den Gewissensbegriff definierten, setzten danach Impulse für die folgende Diskussion, die von WZ-Redaktionsleiter Johannes Götzen moderiert wurde. Unter anderem plädierte Di Fabio für eine grundsätzliche Diskussion über Bildungsinhalte, insbesondere über Bildungsethos. Unaufgebbar sei für ihn die Präambel des Grundgesetzes, beantwortete er eine andere Frage. Der Gottesbezug sei das Ergebnis der totalitären Erfahrung, dass der Mensch nur über eine begrenzte Vernunft verfüge. Gott, wobei man auch Allah denken könne, habe uns als Ebenbild geschaffen, "aber wir sind nicht Gott gleich".
Die letzte Frage von Johannes Götzen, ob man zum Reichstagsjubiläum 2021 noch einmal Menschen nach Worms locken könne, beantwortete Di Fabio mit Bedacht. "Es kommt darauf an, was Ihr daraus macht!"