Bildungschancen der Rheinhessen im „finsteren Mittelalter“
Im Interview beschreibt Professor Matheus wie der Buchdruck die Wissensvermittlung im 15. Jahrhundert beeinflusste und wie sich Wissen auch auf die sozialen Strukturen auswirkte.
Der Buchdruck verbreitete sich rasend schnell – 1460 wurde die Drucktechnik erstmals für Kriegspropaganda eingesetzt.
(Foto: MarekPhotoDesign.com - stock.adobe)
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RHEINHESSEN - Um die „Bildungsgeschichte(n) an Rhein und Mosel“ dreht sich eine Vortragsreihe des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz. Deren Vorsitzender Professor Michael Matheus möchte mit der Vorstellung eines „finsteren Mittelalters“ aufräumen. Welche Impulse vom Zeitalter Gutenbergs ausgingen, wie die Studienbedingungen in Mainz vor 500 Jahren ausgesehen haben und welche bedeutende Rolle die rheinhessischen Winzerdörfer bei der Bildungsentwicklung spielten, erläutert Matheus im Interview.
Herr Matheus, wie finster war das ausgehende Mittelalter tatsächlich?
Die Schöpfung des Begriffs Mittelalter geht auf italienische Humanisten zurück, die die Glanzzeit der Antike wiederherstellen wollten. Auf diese Weise wurde die Wahrnehmung eines zu überwindenden, dunkel gefärbten „Mittleren Zeitalters“ grundgelegt. Damit verbundene negative Einschätzungen wirken bis heute nach, siehe „Wikipedia“: „Menschen im Mittelalter waren ungebildet, rückständig und abergläubisch. Diese Vorstellung trifft auf große Teile der Gesellschaft zu.“ Es scheint, als benötige die Moderne einen solchen dunklen Kontrast zur Selbstlegitimierung und Selbstinszenierung. Dabei haben wir dem vermeintlich finsteren Mittelalter mit der Universität sowie dem Buchdruck zwei fundamentale Neuerungen der Bildungsgeschichte zu verdanken. Als Wissensspeicher und Transformatoren bewahrten sie große Teile des antiken Wissens. Weltweit wirkende Prinzipien der griechisch-lateinischen Rechtskultur wurden auf diesen Grundlagen herausgebildet.
Wie stand es um die Bildungslandschaft in Mainz und Rheinhessen damals?
Sie spiegelt allgemeine Entwicklungen wider. Die ersten Hochschulen entstanden im ausgehenden 12. sowie im 13. Jahrhundert in Frankreich, Italien und England. Trier (1473) und Mainz (1477) zählen zu den ältesten Hohen Schulen in Deutschland. Existierten im lateinischen Westen um 1300 weniger als 30 Universitäten, so wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts an rund 60 Hohen Schulen gelehrt. Die Grundlagen universitärer Bildung wurden durch ein dichtes Netz von Schulen gelegt. Für den Mittelrhein existierte wohl um 1500 in allen Städten der Region mindestens eine solche Einrichtung. Selbst Siedlungen, die nicht über Stadtrechte verfügten, entwickelten sich zu Schulstandorten. Dies gilt besonders für die durch die Sonderkultur des Weinbaus geprägten „Winzerdörfer“. Zur Einführung einer Schulpflicht kam es im Mittelalter freilich nicht.
Der Buchdruck verbreitete sich rasend schnell – 1460 wurde die Drucktechnik erstmals für Kriegspropaganda eingesetzt. Foto: MarekPhotoDesign.com - stock.adobe
Professor Michael Matheus von der Guteberg Universität Mainz. Archivfoto: hbz/Michael Bahr
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Welche Rolle spielte die Erfindung des Buchdrucks bei der Wissensvermittlung im 15. Jahrhundert?
Die Erfindung des Buchdrucks verbreitete sich außerordentlich schnell und leitete langfristig einen tiefgreifenden Medienwandel ein. Während der Mainzer Stiftsfehde Anfang der 1460er Jahre wurde die Drucktechnik erstmals zum Zwecke von Kriegspropaganda eingesetzt. Aber man darf die unmittelbaren Wirkungen des Buchdrucks nicht überschätzen.
Wie viele Studenten gab es um 1500 in Mainz?
Die Zahl lässt sich nicht ermitteln. Doch anders als in Trier und Mainz, sind an zahlreichen Hochschulen Matrikelverzeichnisse erhalten. Im Jahrzehnt 1511/20 strömten demnach im nordalpinen Reichsgebiet, verglichen mit den 1430er Jahren, rund fünfmal mehr Studierende an die Universitäten – obwohl die Bevölkerungsentwicklung infolge der Pest erheblich zurückging.
Wer durfte studieren?
Voraussetzung war vor allem die Kenntnis der lateinischen Sprache, formelle Zugangsvoraussetzungen existierten nicht. Jeder, der es sich zutraute, konnte studieren. Wer nicht über ein Mindestvermögen verfügte, wurde kostenlos immatrikuliert. Allerdings blieb der Zugang zur Universität damals Frauen weitgehend verwehrt.
Welche Rolle spielte die Bildung damals bei dem Wunsch, die Standesgrenzen zu überwinden, und wie gut gelang das?
Die Hochschätzung wissenschaftlicher Bildung zählt zu den Fundamenten mittelalterlicher Bildungsgeschichte. Die Dimensionen sozialer Mobilität in einer sehr stark von Geburt und Herkommen geprägten Gesellschaft können nicht anhand von Statistiken ausgelotet werden. Aber es gab viele konkrete Beispiele dafür, dass dank akademischer Bildung soziale Schranken überwunden werden konnten. Wer den damals höchsten akademischen Grad, den Doktortitel, erreichte, sollte eine adelsgleiche Stellung einnehmen können – ein bemerkenswerter Anspruch, auch wenn er nur ansatzweise eingelöst werden konnte. Das im 15. Jahrhundert kursierende geflügelte Wort von den einträglichen Wissenschaften bringt Karriere- und Aufstiegserwartungen zum Ausdruck. Die Überzeugung, durch wissenschaftliche Bildung von den unteren zu den höchsten gesellschaftlichen Rängen aufsteigen zu können, bringt den mit der modernen Redewendung „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ verbundenen Aufstiegsoptimismus in humanistischer Diktion gleichsam auf den Punkt.