„Wichtig ist, dass man nicht aufhört, zu fragen“, meint Yvonne Boulgaridis, Tochter von Theodoros Boulgaridis, den der selbsternannte Nationalsozialistische Untergrund...
LUDWIGSHAFEN. „Wichtig ist, dass man nicht aufhört, zu fragen“, meint Yvonne Boulgaridis, Tochter von Theodoros Boulgaridis, den der selbsternannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) 2005 in dessen Schlüsseldienstladen in München ermordete. Den Toten und ihren Angehörigen möchte Birgit Mair mit ihrer Wanderausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ Gesicht und Gehör verleihen. Am Donnerstagabend hielt die Diplom-Sozialwirtin im Ludwigshafener Gewerkschaftshaus einen Vortrag zu den Ereignissen, die Deutschland seit den späten 90er Jahren bewegen.
Institutioneller Rassismus verhindert Wahrheitsfindung
„Elf Jahre lang galt ich als Kind eines Drogendealers“, klagt Semiya Simsek, deren Vater Enver der NSU an seinem Blumenstand am Straßenrand von Nürnberg erschossen hatte. Bis zum Auffinden der Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt durften die Angehörigen sich nicht einmal als Opfer fühlen. Die Polizei unterstellte ihnen im Gegenteil Mordmotive. Sie suchte mit der Soko „Dönermorde“ die Täter im Umfeld der Opfer, wie Mair kenntnisreich und mit zahlreichen Beispielen darlegt. In den Köpfen der Polizisten schwirrten Begriffe wie „Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Blutrache oder die Türkenmafia“. Wegen „institutionellem Rassismus“ dauerte es so lange, bis die Wahrheit ans Licht kam, so Mair. Das ging so weit, dass man Zeugen nicht lud oder ihnen nur Fotos von Männern mit Migrationshintergrund zeigte, auch wenn sie ausdrücklich darauf hinwiesen, dass es nicht südländisch aussehende Männer mit Fahrrädern gewesen seien, die sie zur Tatzeit am Tatort beobachtet hatten.
„Ich habe noch nie einen Neonazi auf einem Fahrrad gesehen“, meinte der Chef der Münchner Mordkommission Franz-Josef Wülfling etwa auf die Frage, warum die Täter, die meist mit dem Fahrrad geflüchtet waren, nicht in das Visier der Polizei gerieten. Neonazis auf Fahrrädern und auch auf einer Wormser Straße sitzend hat Mair auf Fotos parat. Auf einem Bild vom 17. August 1996 sieht man Jens Pühse, Tino Brandt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben bei einem Aufmarsch für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess in Worms.
Mair lässt vor allem aber die Bilder der Opfer sprechen. „Keiner sieht auf Passfotos so richtig gut aus“, meint sie. Deswegen hat sie Bilder von den Familien der Ermordeten in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen gestellt und lässt sie auch zu Wort kommen. Ohne die Hilfe der Angehörigen wäre die Ausstellung nicht zustande gekommen, erklärt sie.
„Der NSU-Prozess wird jetzt noch einmal richtig spannend“, erwartet sie, weil die Opferperspektive stärker in den Mittelpunk rücke. Die Diplom-Sozialwirtin aus Nürnberg, wo der NSU drei Menschen getötet hat, ist Rechtsextremismus-Expertin. In der lebhaften Diskussion mit dem Publikum berichtet Mair auch über Morddrohungen von Rechtsradikalen, die sie immer wieder erhält. Wie passt der Mord an der Polizistin Michelle Kiesewetter ins Schema? Warum wird der Tod der neun türkischstämmigen Menschen in Ludwigshafen 2008 nicht erneut untersucht? Die Zuhörer haben viele Fragen, zu denen Mair nur Vermutungen anstellen kann. „Wichtig ist, dass man nicht aufhört zu fragen“, ist Mairs Schlusssatz.