Gesteigerte Aggressvität von Rechtsextremisten und damit mehr Gewaltopfer befürchtet Ex-BKA-Präsident Jörg Ziercke, jetzt Chef des Weißen Ring. Die AfD spielt nach seiner Ansicht dabei eine verhängnisvolle Rolle.
Von Reinhard Breidenbach
Leitung Politikredaktion, Chefreporter
Jörg Ziercke.
(Foto: Harald Kaster)
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MAINZ/WIESBADEN - In 47 Dienstjahren als Polizeibeamter hat Jörg Ziercke, heute Bundesvorsitzender des Weißen Rings, so ziemlich alles gesehen und erlebt. Dass es Kriminalitätsfelder gibt, auf denen faktisch keine Strafverfolgung möglich ist, sei eine unhaltbare Situation, betont Ziercke. Er fordert Änderungen, mit Nachdruck wie eh und je.
Herr Ziercke, als das Opferentschädigungsgesetz (OEG) in der novellierten Fassung von 1985 in Kraft trat, waren Sie schon 18 Jahre im Polizeidienst und Ausbildungsreferent im Kieler Innenministerium. Jetzt, als Vorsitzender des Weißen Rings, haben Sie eine Gesetzeslage vor sich, die Gewaltopfern doch deutlich mehr Rechte einräumt als damals. Oder?
Das Gesetz ist ein Fortschritt, aber es hat noch deutliche Lücken. Deshalb haben wir den Berliner Ministerien Vorschläge für Verbesserungen gemacht. Und wir sagen ganz deutlich, dass diese Vorschläge für den Weißen Ring unverzichtbar sind.
Info Weißer Ring
- Der „Weisse Ring“, so die eigene Schreibweise der 1976 gegründeten Organisation, ist ein gemeinnütziger Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten. Er finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Nachlässen und Geldbußen, die von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängt werden.
- Mit knapp 50.000 Mitgliedern ist der Weiße Ring nach eigenen Angaben Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer. Die Bundesgeschäftsstelle ist in Mainz. Es gibt 18 Ländesverbände mit 400 Außenstellen und mehr als 3 000 professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Helfern.
- Das Opfertelefon ist unter der Nummer 116006 bundesweit täglich von 7 bis 22 Uhr kostenfrei zu erreichen. Online-Beratung: www.weisser-ring.de. Kontakt: 06131-8303-0.
E-Mail: info@weisser-ring.de
- Der Weiße Ring hat 2017 für den Satzungszweck Opferhilfe 8,1 Millionen Euro bereitgestellt, (2016: 7,6 Millionen), zudem mehr als 1,6 Millionen für Kriminalitätsvorbeugung. Der Verein leistet seine Hilfe unabhängig von einer Mitgliedschaft oder sonstigen Verpflichtungen.
Nennen Sie uns Beispiele.
Opfer von Gewalttaten erhalten nach dem OEG nur dann Leistungen, wenn sie durch einen tätlichen Angriff zu Schaden kommen. Psychische Gewalt, etwa Stalking, ist nach geltendem Recht kein tätlicher Angriff. Das muss sich ändern. Bei häuslicher Gewalt sollen künftig die Kosten für die Unterbringung in einer Zufluchtsstätte für drei Monate vom Staat übernommen werden, unabhängig davon, ob die Opfer Frauen, Männer oder Kinder sind. Die Verfahren müssen beschleunigt werden, und wir fordern die Kostenübernahme für sozialrechtliche anwaltliche Erstberatung. Opfer frühen sexuellen Missbrauchs müssen leichteren Zugang zu Leistungen erhalten. Die Renten müssen erhalten bleiben, sie geben soziale Sicherheit. Nicht zuletzt: Es darf keinen Leistungsausschluss geben, wenn eine Tat mit einem Kraftfahrzeug begangen wurde.
Letzteres war beim Terroranschlag am 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz mit zwölf Todesopfern ein Problem. Dort wurde die Sicherheitsbehörden zudem hart kritisiert, weil sie den später selbst getöteten islamistischen Terroristen Anis Amri trotz Beobachtung nicht an seiner Tat gehindert hatten.
Als Weißer Ring fordern wir: Es muss alles Menschenmögliche getan werden, damit Menschen nicht zu Opfern werden. Jedes Opfer ist eines zu viel. Wir haben volles Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden. Aber Fehler können leider immer passieren. Der Terrorist darf hundert Fehler machen, der Polizist als Mensch aber keinen einzigen. Eine fehlerlose Arbeit kann niemand garantieren. Und dennoch arbeitet man in der Polizei daran, durch noch größere Sensibilisierung Fehler zu vermeiden.
Was Amri angeht?
Was Amri angeht: Eine Person zu kennen, ist die eine Sache, aber die andere ist: Man weiß nicht, was sie wirklich denkt oder im Geheimen plant. Allein beobachten reicht nicht, weil immer Beobachtungslücken entstehen können. Falls es rechtlich nicht möglich ist, jemanden in Gewahrsam zu nehmen oder zu verhaften, hat die Polizei immer ein Problem. Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Sicherheitsbehörden eine Vielzahl von Attentaten in Deutschland verhindert haben. Allein im Jahr 2018 gab es 14 bedeutsame Verdachtsfälle, in denen Terrorverdächtige rechtzeitig festgenommen werden konnten.
Wenn Täter Flüchtlinge sind, vor allem Muslime, gibt es Hetze, bis hin zu chaotischen Zuständen wie in Chemnitz.
Ich kann die Menschen verstehen, die nach Terroranschlägen oder anderen Gewalttaten Angst oder Wut empfinden. Wir als Opferhilfeorganisation fühlen ganz besonders auch mit den Angehörigen der Opfer. Insbesondere bei Traumatisierungen versuchen wir, Wege zur Hilfe aufzuzeigen. Ob Hetze und Rassismus weiterhin um sich greifen, hängt mit davon ab, ob wir als zivile Gesellschaft zusammenhalten, uns nicht passiv verhalten, sondern öffentlich dagegenstellen. Die Sicherheitsbehörden müssen beim Bürger mit noch größerer Offenheit und Transparenz um Vertrauen werben und zeigen, dass der Staat alles rechtsstaatlich Zulässige unternimmt.
Teile der AfD sind meist in der ersten Reihe, wenn es darum geht, gegen „Messermigration“, wie sie das nennen, also gegen die Einwanderungspolitik zu agitieren.
Wir haben im Weißen Ring eine klare Festlegung. Keine Fremdenfeindlichkeit, keine Diskriminierung, kein Antisemitismus, kein Extremismus – das sind Grundpfeiler unseres Wertekanons, die auch in unserem Verhaltenskodex für die Opferhilfe festgeschrieben und nicht verhandelbar sind. Die Rhetorik der Führung der AfD ist das genaue Gegenteil. AfD-Rhetorik spiegelt oftmals den Sprachgebrauch des Nationalsozialismus. Wenn jemand seine Funktion im Weißen Ring verknüpft mit einer nach außen manifestierten aktiven Rolle in der AfD, dann kann diese Person keine Funktion mit Kontakt zu Opfern im Weißen Ring haben. Das lassen wir als Verein nicht zu. Selbstverständlich helfen wir allen Menschen, die Opfer von Kriminalität werden. Wir haben die Sorge, dass durch diese Rhetorik nationalpopulistische und rechtsextremistische Gruppen noch aggressiver werden und mehr Gewaltopfer die Folge sind.
Was kann man dagegen tun?
Jeder, und wir als Opferhilfeorganisation allzumal, sind gut beraten, rechtzeitig unsere Stimme zu erheben und vor den Folgen zu warnen, wenn Menschen durch aggressive Rhetorik aufgestachelt werden.
Es gab früher Vorwürfe, die Polizei sei auf dem rechten Auge blind. Jetzt gibt es vereinzelt den Verdacht, zum Beispiel in Sachsen, dass Leute aus dem Sicherheitsbereich rechtsextremistischen Kreisen mindestens nahestehen.
Einzelfälle von Fehlverhalten sind auch bei Sicherheitskräften nicht auszuschließen. Aber der Generalverdacht „auf dem rechten Auge blind“ ist abgedroschen und hat mit der Realität in der Polizei nichts zu tun. Er rührt daher, dass Polizisten auch das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit - wie auch der NPD als Partei - schützen müssen. Aber: Die Polizisten schützen keine Verfassungsfeinde, sondern die Demonstrationsfreiheit. Und glauben Sie mir: Die weit überwiegende Mehrheit unserer Polizisten macht das mit der geballten Faust in der Tasche, weil sie mit rechtem Gedankengut nichts am Hut hat.
Ist trotz der Gefahr durch Rechtsextremismus der islamistische Terror noch die größere Bedrohung?
Im weltweiten Gefahrenraum ja, in Deutschland nach meiner Einschätzung nicht. Wir haben in Deutschland etwa 1.000 Gewaltfälle durch Rechtsextremisten pro Jahr. Daher lehne ich eine unterschiedliche Gewichtung oder gegenseitige Aufrechnung der Gefährdung ab. Das führt auch zu nichts, weil beide Gewaltphänomene gleichermaßen verhindert werden müssen.
Kampf gegen Terror und andere Schwerkriminalität – kann die Polizei da technisch überhaupt mithalten? Beispiel Kinderpornografie: Die Vorratsdatenspeicherung, mit deren Hilfe die Polizei Verbindungsdaten in der Telekommunikation länger einsehen könnte, liegt auf Eis.
Im Internet gibt es eigentlich keine rechtsfreien Räume, aber leider de facto Räume, in denen keine Strafverfolgung möglich ist. Das ist eine unhaltbare Situation. Die Polizei muss im virtuellen Raum das dürfen, was sie auch in der analogen Welt rechtlich darf. Denn gerade im Bereich der Kinderpornografie geschieht Unvorstellbares an Grausamkeit und Gewalt. Die Vorratsdatenspeicherung, natürlich unter richterlicher Kontrolle, muss dringend wieder in Kraft gesetzt werden. Das würde nach Auffassung aller Experten helfen, schwerste Straftaten zu verfolgen, die Fortsetzung von Verbrechen zu verhindern und damit Menschen vor Leid zu bewahren.
Rechtlich ist es in Deutschland nicht zulässig, dass sich Polizisten ins Darknet, den geheimen Teil des Internets, einschleusen, indem sie echte kinderpornografische Bilder anbieten, eine sogenannte Keuschheitsprobe ablegen. Sollte man das erlauben?
Da habe ich persönlich auch große ethische Bedenken. Was der Weiße Ring in Einzelfällen unterstützt: Wenn Kinder, deren Identität nicht geklärt ist, Missbrauchsopfer wurden und die Polizei Bilder hat und eine Vermutung über die Herkunft des Kindes, dann wird im Einzelfall mit dem Bildmaterial beispielsweise auch an Schulen recherchiert. Natürlich in Absprache mit der Schulleitung und den zuständigen Behörden. Das ist schon überaus heikel. Insgesamt stellen sich extrem schwierige Abwägungsfragen.