Corona raubt immer neuen Patienten die Luft und ihren Pflegenden dringend benötigte Verschnaufpausen. Im Uni-Klinikum Gießen hofft man auf ein Einsehen der Mitmenschen.
GIESSEN. Krankenpfleger Tobias Kempff hat einen kleinen Mutmacher dabei, wenn er auf der Corona-Intensivstation des Gießener Uni-Klinikums im Einsatz ist. Ein Zettelchen mit aufgemalter Sonne und einem "Wir schaffen das!" in Filzstiftschrift. Am Anfang der Pandemie ließ ihm ein mitfühlender Unbekannter den Motivationsspender zukommen, und der 48-Jährige hat ihn sich aufs Namensschild an seiner Arbeitskleidung geklebt. Zuspruch in der Corona-Krise - das scheint derzeit noch nötiger zu sein als zu deren Beginn.
"Es ist so, dass wir personell, körperlich und emotional am Anschlag agieren", sagt Kempff über seine Lage und die der Kolleginnen und Kollegen. "Der überdurchschnittliche Einsatz über so eine lange Zeit fordert irgendwann seinen Tribut. Nach drei Wellen ist die Pflege erschöpft, weniger belastbar, hat kaum Zeit sich zu regenerieren." Der Krankenstand sei zurzeit hoch. Jetzt ist die vierte Corona-Welle da "und wir wissen nicht, was kommt und wie lange sie dauert".
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Seit Anfang Oktober steigt die Zahl der Covid-Kranken auf Hessens Intensivstationen wieder. Das zeigen Daten des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Der Tiefpunkt dieses Jahres war am 30. Juni erreicht, als landesweit 37 Covid-19-Patienten dort lagen. Das Maximum war am 5. Januar gezählt worden mit 523 Patienten. Derzeit sind es fast 260.
Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) gehört mit seinen zwei Standorten bundesweit zu den größten Uni-Kliniken. Dort werden schon in normalen Zeiten die Schwerkranken der umliegenden Region und darüber hinaus behandelt. Im Gießener Haus liegen aktuell rund 30 Covid-19-Patienten, etwa 20 davon auf Intensivstationen.
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"Covid-City" nennen sie jenen abgetrennten Bereich der Intensivstation 2.5, wo Ärzte und Pfleger um das Leben der schwerst kranken, ansteckenden Corona-Patienten kämpfen. Auch davor gibt es Zimmer, in denen Menschen an Beatmungsmaschinen hängen. Das Virus ist aus ihren Körpern verschwunden, die Verwüstung aber noch da. Bewusstlos und beatmet liegt hier etwa ein 24-Jähriger im Bett. So weit hätte es nicht kommen müssen: Der junge Mann hat keine Corona-Schutzimpfung, wie die allermeisten der Patienten hier.
Das UKGM in Gießen hatte vor fast einem Jahr sogar 120 Infizierte in Behandlung, davon 50 in Intensivbetten. Doch die Situation damals ist nicht mit heute vergleichbar, eben weil das Personal ausgedünnter und müder ist. "Man kann nicht andauernd mit Maximaleinsatz arbeiten und alle Reserven verbrauchen. Das macht es in dieser Phase deutlich schwieriger", sagt Werner Seeger, Pneumologe und Direktor jener Klinik am UKGM, die sich um Lungen- und Intensivpatienten kümmert. 195 Intensivbetten hat das Krankenhaus in Gießen nach seinen Angaben. Wegen des Pflegemangels könnten aktuell aber nur 154 belegt werden.
Eingriffe müssen abgesagt werden
An diesem Morgen - einem, an dem wieder neue Höchststände bei den Corona-Infektionen in Deutschland gemeldet werden - sind die Betten zu 95 Prozent belegt und die Kapazitäten damit quasi schon voll ausgelastet. Denn im Tagesverlauf sind neue Notfallpatienten zu erwarten. Oder Frischoperierte - eigentlich.
"Wenn wir heute neue Zugänge bekommen, mehr als wir freie Betten haben, bedeutet es, dass wir sagen müssen: Okay, damit stehen weniger Intensivbetten für Operationen oder andere Interventionen zur Verfügung", erklärt Seeger. Also werden Eingriffe abgesagt. Je voller die Klinik werde, desto mehr müsse alles, was planbar sei, zurückgestellt werden. "Das müssen wir jeden Tag neu anschauen und im Laufe eines Tages neu umstellen. Das führt permanent zu Verschiebungen dessen, was verschiebbar ist."
Könnte es sogar zur Triage kommen, also dass Mediziner wegen knapper Ressourcen entscheiden müssen, wem sie zuerst helfen? "Wir tun alles und haben auch alles getan, um eine Triage-Situation zu vermeiden", betont Seeger. "Wir versuchen durch Umorganisieren, diese Schwelle nicht zu überschreiten."
Die Patienten in "Covid-City" brauchen oftmals lange Hilfe. Manch einer liegt schon 69 oder 71 Tage auf der Station 2.5. Die Abläufe im Umgang mit den Patienten sind eingespielt. Sie sind besonders, aber Stationsleiter Tobias Kempff ist es wichtig zu betonen, dass es sich dabei um kein "Horrorszenario" handele.
Das Pflegeteam ist aufgeteilt. Die einen Kollegen arbeiten mit den Covid-Patienten, die anderen mit jenen ohne Corona-Infektion. "Das darf sich nicht mischen", erklärt der Stationsleiter. "Das Besondere in der Versorgung der Covid-Patienten ist, dass man wirklich sehr eng zusammenarbeitet. Dass Ärzte teilweise pflegerische Aufgaben übernommen haben, wenn sie gerade im Zimmer waren, und umgekehrt die Pflege die ärztlichen Abläufe unterstützt."
Wer in die Zimmer der Infektiösen geht, muss sich genau überlegen, was zu tun und was mitzunehmen ist, um zusätzliches An- und Ausziehen der Schutzkleidung zu vermeiden. "Niemals geht man aus dem Zimmer einfach mal so rein und raus." Bevor ein Gegenstand den Raum verlässt, wird dieser desinfiziert und danach sofort ein zweites Mal.
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Von all dem bekommen die beatmeten und in die Bewusstlosigkeit versetzten Patienten nichts mit. Der jüngste Covid-Kranke auf der Station ist 21 Jahre alt, der älteste 80. Für die Pflegenden sei die emotionale Belastung größer geworden, sagt Kempff. "Weil die Patienten auch immer jünger werden und sterben. Väter und Mütter von kleinen Kindern, die nicht mehr nach Hause kommen."
Doch da sind auch die Kraft-Momente. "Es ist eine tolle Teamleistung quer durch die verschiedensten Berufsgruppen. Wir stehen zusammen, wir unterstützen uns, wir haben immer jemanden, mit dem man über belastende Situationen sprechen kann. Wir sind in der Pandemie noch viel stärker zusammengewachsen und das ist ein gutes Gefühl. Natürlich sind es auch die Erfolge, wenn jemand überlebt, dem es sehr schlecht ging. Das macht Mut, dran zu bleiben."
Viele nicht vollständig Geimpfte auf Intensivstation
Die Teamleistung ende nicht am Ausgang der Covid-Station, betont der Pfleger. Die Versorgung dieser Patienten bedeute viel Mehrarbeit auch für alle anderen Berufe und Bereiche des Klinikums wie durch einen Dominoeffekt. Und man müsse wissen: "Das geht zulasten der Non-Covid-Patienten, also letztlich zulasten der Geimpften."
Dass so viele nicht vollständig Geimpfte auf den Intensivstationen liegen - in Gießen betrifft das etwa 85 Prozent der dort behandelten Covid-Patienten - beschäftigt jene, die sich um sie kümmern. "Es herrscht ein gehöriges Maß an Enttäuschung und Fassungslosigkeit, weil es nicht gelungen ist, trotz optimaler Versorgung mit Impfstoffen eine höhere Impfquote zu erreichen", sagt Lungenforscher Seeger. "Natürlich ist es das ärztliche Ethos, dennoch alle Patienten zu versorgen. Und wir versorgen auch all jene, die nicht geimpft und jetzt schwerstkrank sind und für viele Wochen Intensivstationsplätze in Anspruch nehmen - auch wissend, dass wir andere Patienten deswegen zurückstellen müssen. Das ist aber ethisch schon nicht einfach."
Stationsleiter Kempff erinnert sichtlich bewegt an den Fall einer dreifachen jungen Mutter. Sie war gegen Sars-CoV-2 geimpft, konnte aufgrund einer Immunschwäche-Erkrankung aber keinen ausreichenden Impfschutz aufbauen. "Sie hätte sich vielleicht nicht angesteckt, wenn die Impfquote höher gewesen wäre."
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Der 48-Jährige hat nach den immer neuen Corona-Wellen dringende Appelle. "Was wir uns von unseren Mitmenschen wünschen: Wir wollen durchhalten und wer uns dabei wirklich unterstützen will, der lässt sich impfen." Und der eigentlich wunderschöne Pflegeberuf brauche wirklich mehr Anerkennung und Attraktivität in Form besserer Bezahlung und Bedingungen, sagt Kempff. "Unser Appell ist: Vergesst uns nicht. So ist das nämlich bisher nach jeder Welle gewesen."
Von Carolin Eckenfels und dpa