Die Evangelische Rheinische Kirche meldet für ihre Exklave in Mittelhessen weniger Mitglieder im Vergleich zum Vorjahr. Dennoch schöpft Superintendent Hartmut Sitzler Hoffnung.
Wetzlar. Nicht nur die Katholiken müssen Jahr für Jahr einen deutlichen Verlust an Mitgliedern verkraften. Auch in der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), zu der der Kirchenkreis an Lahn und Dill gehört, konnte der Abwärtstrend 2022 nicht gestoppt werden. Die mittelhessische Exklave der EKiR, die von Gemeinden der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) umgeben ist, verlor etwas mehr als drei Prozent an Gemeindemitgliedern. In Zahlen ausgedrückt, die der Redaktion exklusiv vorliegen: Ende Dezember 2022 hatte der Kirchenkreis 65.663 Mitglieder. Das sind 2110 weniger als noch Ende 2021.
Superintendent Hartmut Sitzler nennt im Gespräch mit der Redaktion mögliche Gründe für den Mitgliederschwund. Die Demografie sei dabei nur ein Teil der Antwort, wenngleich es laut Sitzler „der Hauptfaktor“ ist. „Es sterben einfach gesagt mehr Menschen, als Kinder geboren werden“, sagt Sitzler. Es sind aber auch viele, die der Evangelischen Kirche aus freien Stücken heraus den Rücken kehren – und austreten.
Rekord an Kirchenaustritten
Nach Angaben des Kirchenkreises gab es im vergangenen Jahr mehr als 1000 Austritte „und damit deutlich mehr als 2021, was allerdings zum Teil auch ein Nachholeffekt wegen geschlossener Bürgerämter sein dürfte“, interpretiert Sitzler die Zahlen. Dem stehen rund 50 Aufnahmen getaufter Erwachsener in die Evangelische Kirche gegenüber. Insgesamt wurden 2022 laut Kirchenkreis gut 570 Kinder und Erwachsene getauft.
Es sterben einfach gesagt mehr Menschen, als Kinder geboren werden.
In Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland mit den meisten EKiR-Mitgliedern, gab es 2022 einen Rekord an Kirchenaustritten – sowohl bei Katholiken als auch Protestanten. Als Grund wird der Ärger über den Umgang des katholischen Bistums Köln mit den Missbrauchsfällen genannt. Die Erfahrung von enttäuschten Mitgliedern kann auch Sitzler für Mittelhessen bestätigen. Er finde es allerdings unglücklich, wie beide Konfessionen beim Thema Missbrauch in der öffentlichen Debatte bisweilen in einen Topf geworfen werden. Sitzler sagt: „Die Evangelische Kirche an Lahn und Dill ist einfach nicht das katholische Bistum Köln.“ Bei der Aufarbeitung von Verfehlungen sieht er seine Institution nach eigener Auffassung auf einem guten Weg.
Individuellere Gesellschaft und Entfremdung vom Glauben
Zumal „Ärger“ oder gar eine „Feindschaft“ gegenüber der Evangelischen Kirche als Austrittsgründe nicht zu erkennen seien, wie Sitzler sagt. Vielmehr bedeute eine individuell gewordene Gesellschaft das Ende der engen Kirchenbindung. „Der Kontakt zur Evangelischen Kirche ist dünner geworden“, meint Sitzler. Gerade im vergangenen Jahr seien vielen Menschen die gestiegenen Lebenshaltungskosten durch den Kopf gegangen. Also habe sich die Frage gestellt: „Wo kann ich noch sparen?“ An der Kirchensteuer zu sparen, sei dann attraktiv gewesen. Sitzler sagt: „Frei nach dem Motto: Wann habe ich das ,Abo’ denn das letzte Mal benutzt?“
Er zeigt sich dabei durchaus selbstkritisch, weil man „die guten Gründe, evangelisch zu sein“, seitens der Kirche deutlicher erklären müsse. Die Zusammenlegung von Kirchengemeinden möchte Sitzler als Grund für die Entfremdung nicht gelten lassen. Wenngleich ein enger Kontakt zu Pfarrer und Gemeinde wichtig sei, um den Glauben besser leben zu können. Hier sei aber letztlich die veränderte finanzielle Lage zu berücksichtigen.
Finanzieller Druck wegen Demografie und Inflation
Derweil konnte die Rheinische Kirche, die mit insgesamt rund 2,3 Millionen Mitgliedern als zweitgrößte deutsche Landeskirche gilt, trotz sinkender Mitgliederzahlen ein Plus bei den Kirchensteuereinnahmen vermelden. Doch in Zukunft werde man laut EKiR-Finanzchef Henning Boecker den Eintritt geburtenstarker Jahrgänge in den Ruhestand, die Inflation sowie höhere Personalkosten finanziell zu spüren bekommen.
Wiedereintritt in veränderten Lebenslagen
Hoffnung schöpft Sitzler im religiösen Angebot der Evangelischen Kirche. Sitzler sagt: „Lebensgeschichtlich können sich Bedingungen ändern.“ Man denke zum Beispiel an den Tod enger Verwandter. „Zur Unterstützung in solchen Lebensphasen erlebt man es dann doch als wertvoll, einen Glauben zu haben.“
Seine Erfahrung zeige durchaus, dass vor allem Menschen im hohen Alter wieder in die Evangelische Kirche eintreten. Doch zur Wahrheit gehöre einfach, dass es derzeit deutlich mehr Austritte als Wiedereintritte gebe. Deutschlandweite Zahlen zu Gemeindemitgliedern und Austritten plant der Zusammenschluss der 22 evangelischen Landeskirchen, die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Anfang März zu veröffentlichen.