Biennale: Von weiblicher Schöpfungskraft und ganz großen...

Mit starken Stimmen und wirkmächtigem Tanz entführen sechs afrikanische Frauen in eine Welt voller Poesie. Foto: Leslie Artamonow

Das Tanztheater von Dorothée Munyaneza „Maille“ erzählt bei der Wiesbadener Biennale von Verlorenheit, Rastlosigkeit, Liebe, Freude und Trauer.

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WIESBADEN. Mit dem Tanztheater von Dorothée Munyaneza ist der Wiesbaden Biennale 2022 ein dicker Fisch ins Netz gegangen. Der Titel der Produktion, „Maille“, jedenfalls wird im Französischen im Textilbereich verwendet und bedeutet Masche. Nach gut einer Stunde Spielzeit darf man feststellen, dass das Netz, das sechs Frauen auf der Bühne des Großen Hauses des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden weben, ausgesprochen vielschichtig ist. Auch wenn ihre familiären Wurzeln eher in ostafrikanischen Ländern zu finden sind, so lassen sie mit ihrer Inszenierung doch auch an die westafrikanische Tradition der Griots denken. Die Vermittlung von Wissen durch Musik und Wort führt das Sextett mit seiner Arbeit jedenfalls ins 21. Jahrhundert. Mit starken Stimmen, wirkmächtigem Tanz und ausgefeilter Choreografie erzählen sie Geschichten voller Poesie. Mit allem, was dazu gehört: Verlorenheit und Liebe, Rastlosigkeit und Verwurzelung, Freude und Trauer.

Dankbarkeit scheint in westlicher Welt vergessen

Es ist eine Erzählung, die auf weiblicher Schöpfungskraft basiert. Nicht nur bei den Akteurinnen sondern auch beim Bühnenbild von Stéphanie Coudert, die durch bunte Kleider, die von der Decke hängen, sowohl eine Struktur schafft, mit der gespielt werden kann, als auch den Kreis der beteiligten Frauen symbolisch erweitert. Doch Männer tragen ebenfalls ihren Teil zu der packenden Inszenierung bei. So zeichnet Christian Dubet für das stimmungsvolle Lichtdesign verantwortlich, das mit tiefen Schatten mystische Atmosphäre erzeugt und genauso die Möglichkeit zu rätseln schafft, wie die Grundlage für glänzende Auftritte im Licht. Komponist Alain Mahé wiederum gehört nicht nur zu den vier Künstlern, die die Musik für die Produktion geschaffen haben, sondern übernimmt auch das Sounddesign. Die musikalische Gestaltung der Szenen eint ihre Vielschichtigkeit. Meist handelt es sich um das Zusammenspiel verschiedenster Klangfarben aus der nahezu grenzenlosen Welt der Perkussion. Trotz großer Dichte kann das zu zart tropfenden Ergebnissen führen, die erfrischend wie klares Wasser wirken. Es resultiert aber auch in voluminösem Dräuen, das so durchdringend wird, dass manche Gäste sich offensichtlich gewünscht hätten, Ohrstöpsel mitzunehmen. Einmal aber erfolgt die musikalische Gestaltung auch durch eine Collage jazzig-groovender Saxofonsounds.

Mit Klängen stellen sich die Akteurinnen zu Beginn auch vor. Jede mit einem anderen Perkussionsinstrument und jede in ihrem Rhythmus erkunden sie die Bühne. Überraschend dann, dass Yinka Esi Graves die Inszenierung mit einem temperamentvollen und kreativ interpretierten Flamenco fortsetzt. Wird dieser durch zweistimmigen Gesang begleitet, wird ihr Gestus zurückhaltender. Als sie eine Metallglocke mit einbezieht, die sie zum Teil wie den Lauf einer Waffe anmuten lässt, scheint jede Faser ihres Körpers bis zum Anschlag unter Spannung zu stehen. Später berührt sie mit voluminös-rauchiger Stimme bei einer Erzählung über die Herkunft aus einer Mangroven-Familie, die auf dem Wasser nicht wurzeln kann, die aber auch nirgends dazugehören muss, sondern durch Liebe und Gerechtigkeit zusammengehalten wird. Meist aber übernimmt die Poetin Asmaa Jama die Präsentation der Texte, die per Übertitel ins Deutsche übersetzt werden. Mal wird darin der Dank für die Grundlagen des Wachstums ausgedrückt, den gereifte Menschen in sich tragen. Diese Sichtweise, die in der westlichen Welt immer mehr in Vergessenheit zu geraten scheint, wird von Nido Uwera mit Bewegungen in Zeitlupe illustriert, die an eine Tempeltänzerin erinnern. Doch die Poesie trägt ebenfalls den Trost in sich, dass die Samen von Pflanzen auch nach langer Trockenheit in der Lage sind, zu gedeihen.

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Zu den Stärken der Inszenierung gehört nicht zuletzt, dass die Texte zu manchen Szenen mehrfach wiederholt werden, sodass das Publikum die Gelegenheit hat, ihnen nachzuspüren. Dann aber wird die Übersetzung ausgeblendet, sodass man sich ganz auf die detailreichen Darbietungen konzentrieren kann. Eines der Bilder, an denen das gesamte Ensemble beteiligt ist, zu dem auch Ife Day und Elsa Mulder gehören, bringt pure, reine Freude zum Ausdruck. Einige Gäste hätten hier gerne das Ende der Inszenierung gesehen, doch in ihren Applaus hinein beginnt die eigentliche Schlussszene, in der Munyaneza gekonnt die Trauer über den Verlust eines Menschen inszeniert. Dass Begriffe wie Welle und Salz hier eine Rolle spielen, lässt erahnen, dass dessen Körper an einen Strand des Mittelmeers gespült sein könnte.