„Ein ganz normales Pogrom“ von Sven Felix Kellerhoff
Die Novemberpogrome 1938 waren hausgemacht. Wie das passieren konnte, legt eine beklemmende Studie aus dem Rheinhessischen dar.
Von Christian Knatz
Beim Pogrom am 10. November 1938 wurden jüdische Mitbürger samt Thora-Rollen durch Guntersblum getrieben – und das Dorf schaute zu.
(Foto: Landesarchiv Speyer)
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GUNTERSBLUM - Das Märchen war auch im rheinhessischen Weinort Guntersblum mittlerweile als Fiktion entlarvt worden: jene Erzählung, derzufolge die deutschen Novemberpogrome 1938 von auswärtigen Tätern angezettelt wurden, die wie Heuschrecken über die Einheimischen, vor allem die Juden, gekommen waren. Sieben Fotos aus Guntersblum vom 10. November 1938 stießen Zweifelnde noch einmal mit der Nase drauf: Der Schandmarsch von sechs Guntersblumer Juden wurde befohlen und begafft von Menschen aus demselben Ort – die damit das ihre taten, den Mitbürgern die Würde zu nehmen. Das Leben verloren vier der sechs Gepeinigten bald darauf. Der Journalist und Historiker Sven Felix Kellerhoff hat den zu den Bildern verfassten „Welt“-Artikel von 2008 zehn Jahre darauf zu einem Buch ausgebaut, das gemäß Klappentext schildern soll, „wie aus Nachbarn Juden wurden“.
Der Haupttitel „Ein ganz normales Pogrom“ ist anscheinend angelehnt an Christopher Brownings Studie „Ganz normale Männer“, die am Beispiel eines Polizeibatallions schildert, wie beim Ostfeldzug aus Ordnungshütern Massenmörder wurden. Dessen analytischen Tiefgang erreicht das kleine Sittengemälde aus dem Rheinhessischen nicht, wiewohl die Quellenlage ziemlich gut ist.
So recht will dem Autor selbst nicht einleuchten, wie denn so was von so was kam. Guntersblum war nämlich vor und während der NS-Zeit ein durchschnittliches Dorf, wie Kellerhoff mehrfach betont, und eben keine „Hochburg“ des braunen Ungeists, wie eine Kapitelüberschrift suggeriert.
Beim Pogrom am 10. November 1938 wurden jüdische Mitbürger samt Thora-Rollen durch Guntersblum getrieben – und das Dorf schaute zu. Foto: Landesarchiv Speyer
Sven Felix KellerhoffEin ganz normales PogromNovember 1938 in einem deutschen Dorf. Verlag Klett-Cotta, 240 Seiten, 22 Euro.
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Die Dorfgemeinschaft lebt weiter, als sei nichts passiert
So durchschnittlich, dass es ein wenig Mühe bedurfte, um rund um das zentrale Geschehen genügend Buchseiten zu packen. Wenig Belangvolles etwa zu frühen NSDAP-Ortsgruppenleitern und eine ausführliche Nacherzählung des Pariser Attentats, das als Vorwand für die Pogrome diente, lenken ein wenig vom Verdienst des Texts ab: an einem Beispiel mit Namen und Straßen darzulegen, wie an vielen Orten Deutschlands kleine Beiträge zum größten aller Verbrechen führten, wie Neid zu Niedertracht und Unmut zu Unmenschlichkeit gerannen.
Enteignung, Entrechtung, Peinigung, Deportation, Ermordung: All das wird durch sieben Fotos in einen Erzählstrang gebracht. Und obwohl einige Opfer vergleichsweise achtbar entschädigt und einige Täter vom November 1938 zur Rechenschaft gezogen wurden, kann Kellerhoff mit einigem Recht für Guntersblum und den Rest der Republik nach 1945 feststellen: „Man lebte in der Dorfgemeinschaft weiter, als sei nichts passiert.“
DAS BUCH
Sven Felix Kellerhoff: Ein ganz normales Pogrom. November 1938 in einem deutschen Dorf. Verlag Klett-Cotta, 240 Seiten, 22 Euro.