Das Werk von großer Erzählkunst macht bisweilen sehr beklommen. Es führt ins Madrid der noch nicht abgeklungenen Wirtschaftskrise, die vor knapp zehn Jahren in Spanien einschlug.
OESTRICH- WINKEL - „Die Bilder in Ihrem Roman lassen einen nicht los“ - beim Rheingau Literatur Festival begrüßte die Moderatorin Ruth Fühner die Schriftstellerin Anna Katharina Hahn, die in diesem Jahr Mainzer Stadtschreiberin ist. Zum Auftakt der Veranstaltung in der Schlosshalle von Vollrads ließ der Intendant Michael Herrmann Erinnerungen Revue passieren: Man befinde sich an historischer Stätte, sagte er.
Spanien und die Wirtschaftskrise
Einerseits sei Vollrads ja ohnehin ein geschichtsträchtiger Ort, außerdem habe dort vor Jahrzehnten das Rheingau Literatur Festival seinen Ausgang genommen: Zu einem literarischen Diner mit Bezug zum Wein hatten Herrmann und Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau geladen; Gast war der, gelinde gesagt, nicht uneitle Peter Rühmkorf. Alles war gerichtet – und ganze drei Karten verkauft. Herrmann: „Wir mussten noch 30 Leute einladen, um uns nicht zu blamieren.“ Woran lag das geringe Interesse? Die Karten kosteten damals zwischen 180 und 200 Mark. Heute sind sie günstiger, und die Veranstaltungen gut besucht.
Anna Katharina Hahn stellte ihren Roman „Das Kleid meiner Mutter“ vor, ein Werk von großer Erzählkunst, das bei allen Gedankenflügen bisweilen sehr beklommen macht. Es führt ins Madrid der noch nicht abgeklungenen Wirtschaftskrise, die vor knapp zehn Jahren in Spanien einschlug und weite Teile der jungen Generation ihrer Existenzgrundlage beraubte. Die Protagonistin ist Anita, Tochter eines germanophilen, der Literatur und Musik zugetanen Paares. Ihr selbst ist zunächst alles Höhere fremd – bis das Schicksal zuschlägt, und sie ihre ganze Identität neu erfinden muss. Aus traurigen Beobachtungen der wirtschaftlichen Armut begibt sich Hahn in surreale Welten.
Es klinge zwar kitschig, sagte die Autorin im Gespräch mit Fühner, aber ein Traum habe sie zu dem Roman inspiriert. Die erste Lesung folgte: Hahn beschreibt eine bedrückende Entfremdung zwischen den Generationen, die sogar Familien und Freunde zu einer lähmenden Sprachlosigkeit verdammt. Bitter ist die Erkenntnis, dass um sich greifende Armut die Menschen verwirrt und zur Solidarität unfähig macht. Anita findet ihre kränkelnden Eltern Tod im Bett, der Bruder Angel arbeitet in Deutschland, sie ist allein auf sich gestellt. Sie kleidet die Eltern ein, beide bleiben wie Puppen in der Wohnung und Anita beginnt in die Identität ihrer Mutter zu schlüpfen. „Sie entflieht der eigenen schrecklichen Gegenwart“, sagte Hahn an Fühner gerichtet. Sie frage sich, sagte die Autorin, „ob man sein Leben besser auf die Reihe bekommt, wenn man jemand anderes ist.“ Anita stellt fest, dass die Mutter einen Geliebten hatte, und so tritt sie in Kontakt mit dem Deutschen Autor De Ruit. Einem Alter Ego Hahns? Sie fände es jedenfalls reizvoll, über einen Mann zu reflektieren, meinte die Stuttgarterin, „der so gefährlich ist, dass es ihn in Zeiten von Metoo gar nicht mehr geben darf.“ Hahn blickt in Abgründe deutscher und spanischer Geschichte – dabei pendelt sie zwischen Sinnlichkeit und Albtraum.