
Seit Juli 2021 sind die jüdischen SchUM-Stätten in Speyer, Worms und Mainz Welterbe. Zur Übergabe der Unesco-Urkunde ist nun Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch.
Mainz/Worms. Der 27. Juli 2021 war ein Tag für die Geschichtsbücher – zumindest in der Region: An jenem Dienstag erkannte die Unesco das jüdische Erbe der SchUM-Gemeinden als Weltkulturerbe an. „SchUM” steht für die Anfangsbuchstaben der hebräischen Namen von Speyer, Worms und Mainz. Die drei Städte waren im Mittelalter wichtige Zentren jüdischer Gelehrsamkeit, die eine immense Bedeutung für die Entwicklung des aschkenasischen, also abendländischen Judentums hatten. Bereits seit 2006 hatten sich das Land Rheinland-Pfalz, die Jüdische Gemeinde Mainz-Rheinhessen sowie die drei Städte zusammen um den Welterbe-Titel bemüht – mit seiner Zuerkennung wurden zum ersten Mal überhaupt jüdische Kulturstätten aus Deutschland in die Unesco-Liste aufgenommen.
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Jetzt, nicht ganz zwei Jahre später, übergibt Unesco-Generalsekretärin Audrey Azoulay die Welterbe-Urkunde am 1. Februar offiziell an die drei SchUM-Städte. Ein Termin, zu dem auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anreist – ein Hinweis darauf, wie wichtig das SchUM-Welterbe gerade auch als Bestandteil und im Kontext der deutschen Geschichte ist. Bevor die Urkunde bei einer Feierstunde in der Neuen Synagoge in Mainz überreicht wird, besucht Steinmeier die Welterbe-Stätten in Worms – sowohl in Mainz als auch in Worms kann es daher am Mittwoch zu vorübergehenden Straßensperrungen kommen. Die Polizei und das BKA setzen zudem Drohnen für Videoaufnahmen aus der Luft ein, um die Sicherheit des deutschen Staatsoberhaupts zu gewährleisten.
Der Besuch im Überblick:
Kurz vor 11 Uhr, Worms: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht in Begleitung des rheinland-pfälzischen Innenministers Michael Ebling (SPD) den Wormser Friedhof „Heiliger Sand”, den ältesten am ursprünglichen Ort erhaltenen jüdischen Friedhof Europas. Seine ältesten sichtbaren Grabsteine stammen aus dem 11. Jahrhundert, viele wichtige Schriftgelehrte wurden hier begraben.
„Der Besuch des Bundespräsidenten ist eine enorme Aufwertung für das Welterbe-Projekt der SchUM-Stätten“, sagt Aharon Ran Vernikovsky, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Mainz-Rheinhessen. Die Gemeinde sei rituelle Eigentümerin der SchUM-Stätten, etwas, worauf man stolz sein könne. Er hat die Ehre, dem Bundespräsidenten einige wichtige Grabstätten auf dem „Heiligen Sand” zu zeigen. Etwa eine halbe Stunde hat er dafür Zeit.
„Rheinland-Pfalz ist stolz darauf, mit den SchUM-Stätten in Speyer, Worms und Mainz das erste und einzige jüdische Unesco-Weltkulturerbe auf deutschem Boden zu beherbergen”, sagt der für das kulturelle Erbe zuständige Innenminister Michael Ebling. „Diese jüdischen Stätten stehen sinnbildlich für die hellen und dunklen Seiten der über tausendjährigen Geschichte des jüdischen Lebens nördlich der Alpen.”
Bildergalerie: Bundespräsident Steinmeier in Worms und Mainz
11.30 Uhr, Worms: Steinmeier besucht den Wormser Synagogenbezirk. Ein erster Vorgängerbau der Synagoge wurde 1043 geweiht, die hier ab 1212 gebaute „Frauenschul” gilt als die erste in Europa. Während des Novemberpogroms im Jahr 1938 sowie durch einen Bombenangriff 1945 wurde die Synagoge zerstört und von 1956 an als Rekonstruktion wieder errichtet.
Steinmeier zum SchUM-Erbe: „Botschaften sind sehr gegenwärtig”
Es unterstreiche den hohen Stellenwert der SchUM-Stätten, dass der Bundespräsident nicht nur der Verleihung der Welterbeurkunde beiwohne, sondern auch den Wormser Synagogenbezirk besuche, so Innenminister Ebling. „Die Unesco attestiert den Gemeindezentren und Friedhöfen der SchUM-Stätten einen maßgeblichen Einfluss auf jüdische Architektur, Ritualbauten und Bestattungskultur in ganz Mitteleuropa und darüber hinaus. Die Bedeutung dieses Erbes für die Bundesrepublik Deutschland wird durch die Anteilnahme des Staatsoberhauptes deutlich zum Ausdruck gebracht“.
„Wir blicken heute weit zurück in die Vergangenheit, aber die Botschaften sind sehr gegenwärtig”, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem Besuch der Wormser Synagoge. Die Verantwortung aus der Geschichte kenne keinen Schlussstrich.
11.50 Uhr, Worms: Der Bundespräsident trägt sich im Raschi-Haus in das Goldene Buch der Stadt Worms ein. Auf dem Weg zum Raschi-Haus findet Steinmeier auch Zeit, um ein paar Autogramme zu geben und sich für Selfies fotografieren zu lassen. Raschi, kurz für Rabbi Schlomo ben Jizchak, war einer der wichtigsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Das nach ihm benannte Haus in Worms beherbergt heute das seit 1982 existierende Jüdische Museum der Stadt.
„Die Unesco hat den jüdischen Stätten mit dem Titel ‚Weltkulturerbe‘ eine unvergleichliche Anerkennung verliehen, die auch für unsere Stadt von herausragender Bedeutung ist”, so der Wormser Oberbürgermeister Adolf Kessel. „Wir sind mit unserem jüdischen Erbe in Hochachtung verbunden und es erfüllt mich mit Stolz, dass wir dem Bundespräsidenten heute einen Eindruck von der Einzigartigkeit dieser Stätten vermitteln konnten.”
Video zum Besuch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier auf dem „Heiligen Sand” in Worms
SchUM-Welterbe – interaktiver 360-Grad Rundgang durch die Synagoge in Worms und den Friedhof „Heiliger Sand”:
Steinmeier: SchUM erzählt von tiefer Verwurzelung der Juden in Deutschland
14 Uhr, Mainz: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übergibt zusammen mit der eigens aus Paris angereisten Unesco-Generaldirektorin Audrey Azoulay in einer Feierstunde in der Neuen Mainzer Synagoge die Welterbe-Urkunde an Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Die Monumente der SchUM-Stätten erzählten in einzigartiger Dichte von der tiefen Verwurzelung der Jüdinnen und Juden in unserem Land, sagt der Bundespräsident in seiner Rede: vom Aufblühen ihrer Kultur, von Selbstbehauptung und Emanzipation, von Zeiten des friedlichen Zusammenlebens mit der christlichen Mehrheit. Sie erzählten aber auch von Antisemitismus und Judenhass, von Zerstörung und Verfolgung, bis hin zum Zivilisationsbruch der Shoah. Und sie erzählen vom großen Mut zum Neubeginn, den Jüdinnen und Juden in Deutschland immer wieder aufbrachten, allen Rückschlägen und Enttäuschungen, allem Schmerz und allem Leid zum Trotz, so Steinmeier, der dazu aufrief, jeder Form von Antisemitismus entschieden entgegenzutreten.
„Für uns als Landesregierung ist es ein zentrales Anliegen, das Bewusstsein für die deutsch-jüdische Geschichte wachzuhalten”, so Ministerpräsidentin Malu Dreyer bei der Feierstunde zur Urkunden-Übergabe. „Wir sind glücklich und dankbar, dass wir nach dem Menschheitsverbrechen der Shoa in Rheinland-Pfalz wieder ein lebendiges jüdisches Leben haben. Das zu schützen und zu bewahren, ist unsere Aufgabe.”
80 Jahre nach der Shoa, der Ermordung von Millionen jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen und der Zerstörung von mehr als 1.000 Synagogen, sei der Welterbestatus auch Auftrag, Antisemitismus zu erkennen, zu benennen und ihm entschieden zu begegnen. „Deswegen endet unser gemeinsamer Weg heute nicht, sondern wir gehen ihn konsequent weiter. Wir wollen vermitteln, dass jüdisches Leben untrennbar zu unserer Gesellschaft gehört und einen wesentlichen Beitrag zu unserer Kultur geleistet hat und leistet“, so die Ministerpräsidentin.
Die Neue Synagoge in Mainz ist selbst nicht Teil des Unesco-Welterbes – das spektakuläre, von Manuel Herz entworfene Gebäude nimmt aber ausdrücklich Bezug auf die SchUM-Tradition. Die 2010 eingeweihte Synagoge trägt die Inschrift „Meor Hagola” – Licht des Exils: So wurde Gerschom ben Jehuda, der im Mittelalter in Mainz eine Talmud-Akademie begründete und hier Gesetze beschloss, die zu wichtigen Grundlagen des abendländischen Judentums werden sollten, von seinen Schülern genannt.
Ben Jehudas Gedenkstein steht heute auf dem Denkmalfriedhof, dem Herzstück des SchUM-Erbes in Mainz: Er wurde 1926 als Gedenkort eingerichtet, hier stehen alte, wieder entdeckte Grabsteine, die in den Jahrhunderten zuvor, nach der Zerstörung des jüdischen Friedhofs in Mainz infolge mehrerer Pogrome, als Baumaterial zweckentfremdet wurden.
Video: Bundespräsident würdigt SchUM-Stätten in Mainz
SchUM-Welterbe – interaktiver 360-Grad Rundgang über den Denkmalfriedhof und durch die Neue Synagoge in Mainz:
Als Zentren jüdischer Gelehrsamkeit waren die drei „SchUM”-Städte Speyer, Mainz und Worms im Mittelalter eng miteinander verbunden. Hier wurden Traditionen begründet, die bis heute nachwirken: Im jüdischen Religionsrecht, in der Bestattungs- und Trauerkultur sowie der Art, wie religiöse Stätten gebaut werden – die Mikwe in Speyer hatte beispielsweise Vorbildcharakter für viele weiterer solcher ritueller Tauchbäder. Viele der von Schriftgelehrten damals beschlossenen Gesetze waren für die damalige Zeit zudem äußerst progressiv – etwa bei der Abschaffung der Vielehe, der Gleichstellung von Frauen mit Männern im Scheidungsrecht sowie der Einführung des Briefgeheimnisses.
SchUM-Welterbe: Video zur Mikwe, der Synagoge und dem Judenhof in Speyer:
SchUM-Welterbe – interaktiver 360-Grad Rundgang durch die Mikwe und den Judenhof in Speyer: