Gesundheit und Krankheit in der Literatur: Goethe überlebt Schiller um 30 Jahre / Heine ist in seiner Palliativstation produktiv / Mann meidet Kranke
Von Viola Bolduan
Das Sanatorium „Schatzalp“ in Davos wird in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ mehrfach erwähnt. Manns Frau Katia hatte selbst konkrete Heilanstaltserfahrungen in der Schweiz.Fotos: Wikipedia
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WIESBADEN - Gesundheit ist selbstverständlich ein wünschenswertes Gut, als Selbstverständlichkeit aber ebenso selten wie langweilig als Thema für die Literatur. Es ist nicht die vollständige Zahnreihe, die für den literarischen Biss sorgt. Das Gegenteil, die Krankheit, inspiriert sehr viel mehr, als Spiegel einer degenerierenden Gesellschaft, als Symptom inneren Aufruhrs, als exemplarische Fallstudie eines Verfalls. Krankheit kann auch zur Leistungsaufgabe für andere werden, wie im frühen Beispiel der von Wolfram von Eschenbach Anfang des 13. Jahrhunderts in 25 000 Verse gegossenen „Parzival“-Laufbahn, die erst dann zu Ende ist, wenn er dem siechenden Gralskönig Anfortas die entscheidende Mitleidsfrage („oeheim, waz wirret dir?“ – was fehlt dir?) stellt und sich erst daraufhin als Nachfolger würdig erweist. In Thomas Manns „Zauberberg“-Roman greift kein legendärer Held mehr ein, um eine kraft- und hilflose Gesellschaft vor ihrem Ende, hier vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zu retten.
Heilanstalt als Sinnbild für die marode Zivilisation
Als Sinnbild einer Heilanstalt für die malade Zivilisations-Klientel standen übrigens die konkreten Sanatoriums-Erfahrungen in Davos und Arosa von Frau Katia Pate. Sie hat ihrem Mann gern davon schreibend erzählt, er aber sie dort nicht gern besucht. Auch darin sah sich der Großschriftsteller des 20. Jahrhunderts in der Nachfolge Johann Wolfgang von Goethes, der vor Kranken, Sterbenden und Todesnähe floh wie sein Faust vorm Älter- und Hinfälligwerden.
Einmal aber doch hatte der Weise von Weimar eine Ausnahme gemacht. Gegenüber seinem neuen Freund Friedrich Schiller. Gerade waren sich beide Literatur-Promis im Deutschland des 18./19. Jahrhunderts einmal bewusst nicht aus dem Weg gegangen, hatten gar Gefallen aneinander gefunden, als der Jüngere und Charmantere von beiden auf eine Einladung im September 1794 ins berühmte Haus am Frauenplan dem Kollegen folgende Bitte zukommen ließ: Schiller dankt, sagt mit Freuden zu und bittet „bloß um die leidige Freiheit, bei Ihnen krank sein zu dürfen.“ Im Klartext hieß das: Bei meinen nächtlichen Krämpfen lasse man mich in Ruhe, vor Mittag stehe ich nicht auf, gern aber abends beim Wein zur Verfügung. Schillers Husten ist nicht ansteckend, freilich auch nicht heilbar. Er litt an den chronischen Folgen einer nie ausgeheilten Lungen- und Rippenfellentzündung und behauptete ihnen zum Trotz: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“ (Wallenstein). Seine Ode an die Freude muss aus dem Gefühl seltener und deshalb hinreißender Unbeschwertheit entstanden sein – mit Sekt bei Freund Christian Gottfried Körner, mit dem er dem „guten Geist“ zutrinkt. Mit Goethe trinkt er Johannisberger Eilfer, Hochheimer und viele andere Lagen.
Das Sanatorium „Schatzalp“ in Davos wird in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ mehrfach erwähnt. Manns Frau Katia hatte selbst konkrete Heilanstaltserfahrungen in der Schweiz.Fotos: Wikipedia Foto:
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Dessen Kuraufenthalte, so auch die in Wiesbaden 1814/15, dienten übrigens weniger einer notwendigen leiblichen Kräftigung als dem angenehmen gesellschaftlichen Austausch mit Bekannten, dem Sehen und Gesehenwerden, dem Kennenlernen der „Divan“-Partnerin Marianne von Willemer und der Anregung einer Museumsgründung (weshalb er als Monument ja auch wieder vor dem Bau steht). Da ist Schiller schon fast zehn Jahre tot. Und Goethe hatte ihn im Mai 1805 weder selbst am Sterbebett, noch dessen Beerdigung besucht; er überlebt ihn um fast dreißig Jahre.
In Fieberschüben schreibt Schiller Klassik-Dramen
So robust sich Goethes Vitalität beweist, so erbarmenswürdig wird die körperliche Verfassung desjenigen werden, der ihm in Weimar 1824 seine „Faust“-Version vorstellen will und sich damit eine massive Abfuhr einhandelt. Heinrich Heine wird erst mehr als 20 Jahre später in der Zeit seiner „Matratzengruft“ das Tanzpoem „Der Doktor Faust“ als eines seiner letzten Werke ausarbeiten. Ob nun die Syphilis (wie der Kranke selbst vermutete), oder Multiple Sklerose oder ALS (wie heute auch spekuliert) Ursache für das Nervenleiden war – Heine ist von 1848 an zunehmend bewegungsunfähig und muss die acht Jahre bis zu seinem Tod 1856 im Bett, seiner „Matratzengruft“, verbringen. Auch, wenn er sich das Lid hochziehen muss, um lesen zu können – seine geistige und schriftstellerische Präsenz und Produktivität gibt er nicht auf. Neben dem „Doktor Faust“ (1851) erscheinen der Gedichtband „Romanzero“ und 1854 drei Bände „Vermischte Schriften“. Wenn sich Schiller durch Fieberschübe hindurch seine Klassik-Dramen, Historien und Poeme abrang, so gab der „letzte Romantiker“ Heine auf der heimischen Palliativstation in Paris das poetische Florett der Ironie nicht aus der Hand. Und darf sich ein letztes Mal verlieben in eine Verehrerin, die er „Mouche“ nennt, und für die er sich in einem Liebesgedicht selbst auf den Arm nimmt.