Der Soziologe Matthew Desmond beschreibt in „Zwangsgeräumt“ das Geschäft mit der Armut am Beispiel Milwaukee
Von Roland Mischke
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Als die Möbelpacker anklopften, öffnete „eine Latina um die vierzig die Tür“. Ihre Familie in der South Side von Milwaukee hatte Mietschulden, der Vermieter schaltete einen Anwalt ein – nun die Zwangsräumung. „Geben Sie mir noch bis Mittwoch?“, fragte die Frau die Ausräumer. Sie schüttelten die Köpfe. „Wir können Ihre Sachen in den Laster laden oder auf den Gehweg stellen“, sagte einer von ihnen. Laster heißt, dass Möbel zu hohen Preisen bei Spediteuren eingelagert werden. Schnell war klar: „Gehweg-Service.“
So beginnt eine der Geschichten, die Matthew Desmond, 38, in seinem Buch erzählt. Keine erfundenen Geschichten, alle sind real geschehen. Der Soziologe hat für seine Doktorarbeit anderthalb Jahre in Armenvierteln von Milwaukee, viertärmste Stadt der USA, mit den Ärmsten der Armen verbracht. „Ich habe ihre Kinder gehütet, von ihren Tellern gegessen und neben ihnen geschlafen“, schreibt er. Sie fassten Vertrauen zu dem Akademiker, er durfte aufzeichnen, worüber sie redeten, was sie erlebten. Noch nie war ein Professor so nahe dran an Menschen, deren Schicksal er dokumentierte.
Matthew Desmond hat dafür 2017 den Pulitzer-Preis erhalten, den höchsten Literaturpreis Amerikas. Barack Obama und andere Prominente empfehlen „Zwangsgeräumt“ zur Lektüre. Desmond hat 2008/2009 mit acht Familien über Monate hinweg engen Kontakt gepflegt. Vorwiegend Afroamerikaner, aber auch weiße Arme, die sich mit Hilfsjobs durchschlagen, in den USA verächtlich „White Trash“ genannt. Er hat mit 30 Vermietern gesprochen, die ihm Einblick in ihre Geschäftsbücher erlaubten und übliche Praktiken preisgaben. Das Buch belegt endgültig, dass es für eine große Mehrheit der US-Bürger den American Dream nicht mehr gibt.
Wer dieses Buch liest, erfährt viel über das Leben im einstigen Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Desmond hat die Gabe, Geschichten von Menschen mit Analysen und Statistiken zu verknüpfen. Was bedeutet, dass hier keine Elendsgeschichten aneinander gereiht sind, sondern solche vom Kampf um ein besseres Leben, vom Niedergang weiter Teile der Bevölkerung und auch den Fehlern der Armen, für die sie mehr büßen als Angehörige der Mittelschicht. Sie haben keine finanziellen Polster, das Recht ist nicht auf ihrer Seite.
Für Abgehängte gibt es keine Chance mehr
Die Immobilienkrise zwischen 2007 und 2010 hatte zur Folge, dass „die durchschnittliche weiße Familie einen Vermögensverlust von 11 Prozent“ erlitt. Die schwarze Familie verlor 31 Prozent ihres Vermögens, die hispanische Familie 44 Prozent.
Die Latina, deren Haus geräumt wird, hat „das Gesicht einer Person, die aus dem Keller kommt und bemerkt, dass ein Tornado das Haus dem Erdboden gleichgemacht hat“, schreibt Desmond. Ihre Familie ist ab sofort obdachlos, wird in ein marodes Übergangsheim verfrachtet, der Schuldenberg wächst. Die Familie hat alles verloren.
Desmond sprach mit der Immobilienvertreterin Sherrena, einer Schwarzen. Sie sammelt Mieten an Haustüren, ist Millionärin und gibt zu: „Das Ghetto ist gut zu mir“. Das Geschäft mit den Armen ist äußerst profitabel, haben sie Kinder, steigt das Risiko einer Zwangsräumung um das Dreifache. Die Folgen sind eine lebenslange Schuldenspirale, Vermerke in Datenbanken, immer weniger Sozialleistungen. Amerika leide an der weitverbreiteten Meinung, Armut sei die Folge individuellen Versagens. Desmond, der in Harvard lehrt, beweist an Beispielen, dass es für Abgehängte keine Chancen mehr gibt. Sein Meisterwerk belegt die groteske Ungleichheit in Amerika.